Katholische Meinungsverschiedenheiten
Um das Reformationsjubiläum gibt es einen innerprotestantischen Streit. Es geht um die Frage, ob es sich bei der Reformation primär um ein religiöses oder ein mehr profanes weltgeschichtliches Ereignis handelte. Einige katholische Autoren wie Walter Kasper, Bischof Algermissen und der Leiter des Möhlerinstitutes in Paderborn stimmten in den Chor der Kritiker ein. Unmittelbarer Anlass war der „Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)“ von Mai 2014 mit dem Titel „Rechtfertigung und Freiheit“. Vor allem vermissten die katholischen Kritiker bei dem Jubiläum die ausdrückliche Erwähnung der gemeinsam mit den katholischen Partnern bisher erreichten ökumenischen Ergebnisse. Sie erwähnen jedoch nicht, dass die einschlägigen Texte bis heute großenteils selbst in der eigenen Kirche keine amtliche Anerkennung gefunden haben.
Ein wahrer Lichtblick in dieser Streitsache ist nach meiner Meinung ein Artikel der Herder-Korrespondenz von September 2014 aus der Feder des Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet mit dem Titel „Aufschlussreiche Aufregung“. Zugleich empfinde ich die Stellungnahme des Autors als eine willkommene Erinnerung an dessen theologischen Lehrer Thomas Pröpper, der in der AGP 1985 und vor allem in der SOG-Paderborn auch weiterhin Spuren hinterlassen hatte. Er hat vorbildlich die Überzeugung von der Freiheit als Eigenschaft Gottes und als Berufung des Menschen zur Basis seiner Theologie gemacht. Sein Tod konnte bisher in den SOG-Papieren nicht erwähnt noch weniger angemessen bedacht werden.
Striet entdeckt in der erwähnten katholischen Reaktion auf den Text der EKD ein Spiegelbild heutiger innerkatholischer Auseinandersetzungen. Diese hatten beispielsweise kürzlich gezeigt, wie stark das faktische Leben von Katholikinnen und Katholiken von der römischen Sexualmoral abweicht, die andererseits einige einflussreiche kirchliche Gruppen für das A und O des katholischen Glaubens halten. Den Autor beschleicht nach eigenen Worten angesichts der rigiden Kritik am ev. Grundlagentext – zumal der Kritik an der Verbindung von Reformation und neuzeitlicher Freiheitsgeschichte – der Verdacht, dass es einigen immer noch sehr schwer fällt, das Grundprinzip einer modernen Lebensführung, Freiheit, innerlich zu akzeptieren. Tatsächlich haben aber alle sich als katholisch verstehende Menschen in säkularen, religionsneutralen, damit aber keineswegs religionsfeindlichen sondern auf Freiheit setzenden Staaten und Gesellschaften eine ausreichende Chance, ihren Glauben in tiefer Diesseitigkeit unter den Vorzeichen Gottes zu leben. „Wird der Glaube jedoch so gelebt, wird er wirksam in Gesellschaft und Kultur und es ereignet sich Kirche.“ Just dieser Punkt wurde gerade in der anzufechtenden katholischen Kritik vermisst, weil dem evangelischen Text der im katholischen Alltag übliche kirchliche Anstrich fehlt. Striet vermutet, womöglich „liegt die Verärgerung über den Grundlagentext darin, dass sehr stark die Gottunmittelbarkeit des einzelnen Menschen, entsprechend stark auch das gemeinsame Priestertum aller Getauften betont wird.“ Zu Beginn seines Aufsatzes hatte Striet jedoch bei den meisten umstrittenen Passagen des ev. Textes festgestellt, dass aus katholischer Sicht kein Anlass zu Beanstandungen gegeben sei. Anders beurteilt er die dortige Theorie, der christliche Glaube sei das alleinige Werk Gottes, der Mensch trage infolgedessen dafür (folglich auch für seinen eventuell vertretenen Unglauben) keine Verantwortung. Dieser Auffassung kann Striet keineswegs folgen.
Sehr bedenklich erscheint ihm die gängige Redeweise von der angeblich durch die Reformation hervorgerufenen „Kirchenspaltung“. Er betont: „Eine der wichtigsten Folgen des Reformationsgeschehens besteht darin, zu einer Pluralisierung der Christentümer geführt zu haben. Pluralität hat das Christentum von Anfang an begleitet, und deshalb ist sehr die Frage, ob der Begriff Kirchenspaltung überhaupt eine angemessene Kategorie darstellt oder ob ein pluralisiertes Christentum nicht nur unvermeidlich, sondern auch theologisch legitim ist. Denn was unter Christentum, Glaube verstanden wird, verdankt sich Interpretationsprozessen.“
Aus meiner Sicht hat ein anderer ev. Grundlagentext die heutige Situation der pluralen religiös freien Gesellschaft mit der Beschreibung einer „individuellen Religion“ in dem pluralistischen Religionskonzept ebenfalls treffend erfasst. In dem EKD-Text „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive“ vom Juni 2015 heißt es: „Die pluralistische Religionskultur [zeichnet es] aus, dass die Individuen ihre eigene Überzeugung bilden und dabei zu Patchwork-Religiosität neigen.“ Mit Blick auf andere Religionen wird hinzugefügt: „Der Glaube an den einen Gott aller Menschen schließt die Vielfalt religiöser Erfahrungen nicht aus. Der christliche Glaube verkennt nicht, dass andere, sich widersprechende Überzeugungen im Blick auf das, was den Menschen unbedingt angeht, zur Endlichkeit religiöser Gewissheit gehören. Die Existenz anderer religiöser Gewissheiten und die Glaubensfreiheit, aus der Christenmenschen leben, gehören untrennbar zusammen. Da der christliche Glaube eine je eigene individuelle Gewissheit ist, kann er nicht verantwortlich vertreten werden, ohne das Recht divergierender religiöser Überzeugungen und damit das Recht des religiösen Pluralismus anzuerkennen und zu stärken.“
Wer wollte leugnen, wie sehr mit dieser Sichtweise exakt die Realität unzähliger Christen heute gleich welcher Konfession beschrieben wird? Zu erwägen ist, ob man sogar auf das zuvor (dort im Kontext der Aufklärung) verworfene Modell einer Art „natürlicher Religion“ analog zurückgreifen könne, wobei ein diffuser Gottesglaube vertreten werde und gleichzeitig die Frage nach der Gültigkeit und Relevanz konkreter konfessioneller Lehren offen gelassen würde. Das muss nicht heißen, solche Traditionen abzuwerten. Es liegt näher, diese beiseite zu lassen, wenn man ihrer nicht sicher genug ist.
Für eine solche Diagnose sprechen unzählige Alltagserfahrungen. Viele Menschen sind in dem Sinn „entkirchlicht“, dass sie fast alle religiösen Tätigkeiten aufgegeben haben, ohne damit eine programmatische Absage von jeder Religion oder gar jeglichem Gottesglauben zu beabsichtigen. Guten Gewissens können sie immer wieder an Gottesdiensten teilnehmen, wenn sich dafür etwa familiäre Anlässe ergeben. Verständlich ist dieses Phänomen vielfach vor allem, wenn die Betreffenden in einer Religion aufgewachsen sind, sich aber häufig später andere Themen und Sorgen vorgedrängt haben. Irgendwann konnte der Eindruck entstehen, dass sich auch ohne Religion gut leben lässt, zumal eine primitive Sorge um das eigene Seelenheil (im Stil „Rette deine Seele!“) theologisch obsolet geworden war. Sicher stellt sich für den kirchlichen Betrachter schließlich auch die Frage, ob das Leben in größerem Wohlstand von Ausnahmen abgesehen überhaupt noch der Religion oder dem Bedürfnis danach bedarf. Dabei mag man auch die ohne Zweifel empathische Formel von Karl Marx vor Augen haben: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.“ Ohne äußerst gesellschaftskritische und wahrhaftige Unterscheidungen wird die Historie allein kaum zuverlässige Erfahrungen liefern. Sicher gibt es (etwa in den USA) auch Gegenbeispiele. Aber dann stellt sich mit besonderer Dringlichkeit die Frage, welche Motivation und Interessen sich darin verbergen. Spätestens seit dem modernen Auftreten des Phänomens radikaler Areligiosität sind Fragen solcher Art meines Erachtens nicht mehr zu vermeiden. Carl-Peter Klusmann
(sh. SOG-Papiere 2015/4)
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