Unter dem Titel „Deutsche Priesterstudie“ kursiert gegenwärtig das Drumherum eines ursprünglich von der Diözese Paderborn ausgehenden Fragebogens (nicht dieser selbst) mit dem Thema „Wie es mir als Priester wirklich geht…“. Die Fragesteller interessieren sich praktisch einseitig nur für das private Glück der Betroffenen. (www.seelsorgestudie.de) Der Fragebogen selbst war nach meiner Erinnerung anfangs auch öffentlich im Internet zu finden, danach nicht mehr. Deshalb kann ich ihn hier auch nicht verwenden. Angeblich haben ihn inzwischen 22 (von 27) Diözesen verschickt. Wie nicht anders zu erwarten, zeigte die Studie, daß die meisten Priester in ihrem Beruf sehr glücklich sind.

Da zu gewärtigen ist, daß aus dem Unternehmen unrealistische Folgerungen gezogen werden, erlaube ich mir, im folgenden den Text meines Antwortschreibens vom 9.9.2012 zu dokumentieren, der hier und da eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Studie ermöglichen mag. Die meisten Fragen dürften sich aus meiner Antwort in etwa erschließen lassen.

Sehr geehrter Herr Frick,

Ihren Fragebogen habe ich erhalten. Ich werde ihn nicht ausfüllen, da ich ihn für untauglich halte, um auch nur halbwegs realistisch die Situation von Priestern heute zu erfassen. Für meine Beurteilung sprechen vor allem die untengenannten zwei Gründe.
Viele Fragen wirken deplaziert. Angeblich soll dieses Vorgehen den Vergleich mit anderen Berufsgruppen ermöglichen. Die Kombination von womöglich im anderen Zusammenhang bewährten Fragebögen mit den speziell auf Priester zielenden Fragen erscheint willkürlich und läßt nach der Brauchbarkeit der Ergebnisse, vielleicht sogar nach den Motiven der Fragesteller fragen. Ob der Befragte sich Gedanken über den Sinn des Lebens macht, wirkt etwa im vorliegenden Kontext einfach skuril.

Die erwähnten Gründe sind:
1. In Ihrem Entwurf werden Fragen und Probleme der heutigen Kirche ausschließlich als Einstellungen oder Schwierigkeiten einzelner Priester erfragt. Es fehlt jede Möglichkeit, sie als strukturelle oder richtiger: systembedingte Probleme zu begreifen. Auf diese Weise erzeugen Sie ein (möglicherwesie für die kirchliche Administration willkommenes) Zerrbild der Kirche und der Situation der betroffenen Priester sowie deren „Glück“.
2. Im Hintergrund Ihrer Befragung steht zudem ein antiquiertes Leitbild der Priester. Sie verrät ein vorkonziliares Muster, indem sie ein kirchenhistorisches Niemandsland mit überlebten Fiktionen bezüglich eines typischen Priesterlebens vorgaukelt. Die aktuelle Reformunfähigkeit der offiziellen Kirche wird ausgeblendet, die jedoch etliche aktuellen Probleme verursacht und Schwierigkeiten nicht zuletzt für die Arbeit von Priestern zur Folge hat.

Ein deutliches Beispiel ist Ihre Frage nach der Häufigkeit der Zelebration. Sie machen keinen Unterschied nach der jeweiligen Situation oder dem Anlaß. Gefragt wird zum Beispiel nicht nach der Häufung an Sonn- und Feiertagen. Dann ist nämlich in der Regel nicht der Wunsch des einzelnen Priesters entscheidend, eine Messe mehr zu halten. Vielmehr steht dahinter ein Engpaß in der Versorgung der Gemeinde, zumal die Probleme bekanntlich dadurch verschärft werden, daß die Hierarchie sich weigert, auch unter schwierigen Bedingungen am Sonntag Laiengottesdienste als vollwertige Gottesdienste gelten zu lassen. So kommt u.U. eine Vermehrung von Zelebrationen an einem einzigen Tag zustande, die Sie jedoch nicht als Gegenstand Ihrer Befragung ansehen. Außerdem wird die verbreitete Konzelebration nach schlechtem Vorbild kaum als unzulässige Bination erkannt. Konsequenterweise wird übersehen, daß bei Ruheständlern das Motiv überwiegt, überforderte Kollegen zu entlasten. Kurz: Ihre simple Frage nach der Häufigkeit der Zelebration im Laufe der Woche ohne Blick auf die Gemeinde und deren Lage verschleiert die tatsächliche Situation.

Wie wenig ihr Frageraster die heutigen pastoralen Verhältnisse kennt, zeigen andere Beispiele. Das von Ihnen avisierte geistliche Leben kennt kein Bibelstudium, keine theologische Arbeit, kein soziales oder (im weitesten Sinn) politisches Engagement, ebenso wenig ökumenische Kontakte, um nur einige Beispiele zu erwähnen.
Weitere (ausgewählte) Hinweise scheinen mir angebracht:
Die Fragen zum Zölibat sind unzureichend, das anderwärts hinreichend analysierte Problem zu beschreiben.

Nicht einmal die primitivste heute gängige Differenzierung zwischen freiwilligem Eheverzicht aus (vermeintlich biblischen Motiven) und einer rechtlich verfügten Verpflichtung wird berücksichtigt. Im Seminar war der Zölibat nach meiner Erinnerung offiziell kein Thema, wie ich überhaupt die theologische Ausbildung insgesamt als unzureichend empfunden habe. Aber danach fragen Sie ja nicht. Eine offenbar vorgeschriebene rechtliche Instruktionsstunde des Spirituals zum Thema vor dem Seminareintritt war dem Vortragenden spürbar peinlich und endete damit, daß wir aus Mitleid wünschten, daß er die Stunde bald hinter sich brächte.

Die [Ihre] Fragen zur Sexualität („Irgendwie habe ich Probleme“, „in den Griff bekommen“) wirken eher kabarettistisch. Der Skandal weltweiten Unrechts und des millionenfachen Hungers – von elementarer Bedeutung für jede kirchliche Aktivität – wird mit dem Halbsatz „Ich setze mich für Gerechtigkeit ein.“ faktisch bagatellisiert. Die im anderen Zusammenhang erfragte Hoffnungslosigkeit angesichts der Zukunft ist für mich primär ein moralisches und politisches Problem.

Insgesamt wird die ständige Überforderung nicht artikuliert, die durch die Priesterzentrierung der offiziellen Pastoral rechtlich provoziert wird. Statt dessen werden systembedingte Probleme nur als individuelle Schwierigkeiten (als Gefährdung des persönlichen Glücks!) verstanden.

Merkwürdigerweise wird nach akuten oder nach überstandenen Krankheiten nicht gefragt und in welcher Beziehung sie bzw. deren Folgen (über Symptome, wie sie S. 15 genannt werden, hinaus) das eigene Leben einschränken.
Der Fragebogen erscheint mir als Mischung von medizinischen Anamnesen, vorkonziliarer/m Schedula-Frömmigkeit oder Beichtspiegel und manchen Parallelen zu Horoskop-Kategorien. Dadurch ist mir eine sachgemäße Handhabung des Materials und eine Diskussion kaum möglich.

Von etlichen Kollegen weiß ich, daß sie die Fragebögen zunächst einfach wegwerfen wollten, andere haben sie kurzerhand zurückgeschickt, nur um sie vom Tisch zu bekommen. Da sich die anderen Absender ihres Unternehmens womöglich vom Ergebnis in der Psychiatrie oder für Wellnessprojekte von den Antworten Nutzen versprechen, will ich selbst meine Reaktion wenigstens begründen.
Viele weitere Fragwürdigkeiten übergehe ich, da sich m. E. der Aufwand nicht lohnt. Wenn es Sie interessiert: Ich würde denselben Beruf nicht noch einmal wählen und anderen nicht empfehlen, weil ich in über 50 Jahren als Priester erfahren habe, wie sehr sich unsere Kirche in vielen Fagen selbst (von anderem zu schweigen!) im Wege steht.

Die in Ihrem Fragebogen evozierte Selbstbespiegelung erinnert mich an ein Zitat, das ich mir Ihnen als Jesuiten an den Schluß zu stellen erlaube. Analog bringt das Zitat die Sachorientierung zum Ausdruck, die ich auch stets empfunden habe, so daß ich Ihr Frageschema ein wenig als wehleidig empfinde. Apropos: einen regelmäßigen freien Tag habe ich früher kaum gekannt. Bei Georg Sporschills Frage an Ihren Mitbruder Karl Rahner, (“Was bedeutet Ignatius für Ihr persönliches Leben?“) erschrak dieser und antwortete: “Für mein Leben? Ich weiß nicht, was mit meinem Leben ist. Ich habe kein Leben geführt; ich habe gearbeitet, geschrieben, doziert, meine Pflicht zu tun, mein Brot zu verdienen versucht. Ich habe in dieser üblichen Banalität versucht, Gott zu dienen, fertig.“ (in: Karl Rahner Bekenntnisse. Rückblick auf 80 Jahre, Herold, Wien)

Mit freundlichen Grüßen

Der Empfänger dieses Schreibens fragte mich, ob ich zu einem persönlichen Gespräch bereit sei. Von meinem Angebot wurde jedoch kein Gebrauch gemacht.