Vor unseren Augen erleben wir den Niedergang des kirchlichen Lebens. Dass andere das gleiche Geschehen als Anzeichen eines neuen Aufbruchs ausgeben, lassen wir einmal dahingestellt. Wegen der sog. „Entzauberung der Welt“ schien es vielen, mit der Religion überhaupt gehe es zu Ende. Das galt weithin mit dem Sieg von Naturwissenschaft und Technik als unvermeidlich. Inzwischen ist die Religion als weltweites Phänomen nicht mehr zu übersehen. Ob sie dabei als wirkliche Motivation oder bloß als Vorwand dient, spielt dabei keine Rolle.

Am Ende der AGP-Versammlung letzten Jahres wurde für 2014 vorgeschlagen, nach der Bedeutung der Religion in der Gesellschaft und im persönlichen Leben zu fragen. Bei der Vorbereitung des Themas trat die Beobachtung in den Vordergrund, dass die Religion inzwischen wie auf einem Markt ein Angebot neben anderen sei.

Bündige Antworten auf die damit aufgeworfenen Fragen waren in der einschlägigen Literatur kaum zu finden. Zu zwei Aspekten hat Carl-Peter Klusmann am Pfingstmontag in Heppenheim folgenden Diskussionsbeitrag vorgelegt.

  1. Wozu Religion? Was steckt dahinter, wenn ca. 80 % der Weltbevölkerung lt. Statistik einer Religion angehören?
  2. Wie kann man sich die Beständigkeit von Religion erklären, wenn sie vielfach von einer Generation zur nächsten lediglich vererbt wird?
A  Wozu Religion? Das Phänomen Religion

 

Im Jahr 2003 hat die EKD „theologische Leitlinien“ unter dem Titel „Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen“ herausgegeben. Zu Beginn wird die Überzeugung geäußert, welche sich nicht von unserer katholischen Auffassung unterscheidet, nämlich: „Gott ist allen Menschen nah, welcher Religion sie auch immer angehören mögen.“ In der Erklärung selbst wird dann festgestellt, nach Lage der Dinge sei keine „abschließende Definition von Religion“ möglich. Man wolle deshalb lediglich einen „Arbeitsbegriff“ verwenden (10).

Auch aus philosophischer Sicht ist kein einheitlicher Begriff, gleichsam ein Oberbegriff zu finden, wie z.B. im Historischen Wörterbuch der Philosophie zu Beginn des Artikels Religion festgestellt wird: „Obwohl es seit langem üblich ist, Religion als Sammelbegriff für jede Verehrung transzendenter Mächte, jede Lehre vom Göttlichen und alle Glaubensbekenntnisse der Menschen zu verwenden, ist es fast unmöglich, genaue Äquivalenzbegriffe für Religion in jenen Sprachen zu finden, die nicht das lat. religio aufgenommen haben, nicht zuletzt wegen des Bedeutungswandels von religio selbst.“

Schließlich sei noch auf Heinz Robert Schlette verwiesen. Er hat in seinem Artikel „Religion“ im Handbuch philosophischer Grundbegriffe (1974) zu Recht auf einen ansonsten oft vernachlässigten Aspekt hingewiesen (wenn man von der fragwürdigen Parole „Not lehrt beten“ absieht) den Karl Marx aus seiner Sicht eindrucksvoll beschrieben hat:

„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks (wohlgemerkt: nicht wie Marx oft zitiert wird: Opium für das Volk, wodurch ein völlig anderer Sinn entsteht). Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie,  MEW Bd. 1, S. 378-379)

Besonders wichtig in unserer Frage ist das letzte Konzil mit seinen Überlegungen zum Thema:

 

Religion als Thema auf dem II. Vatikanum

Religion als Thema wird vor allem in 3 Beschlüssen genannt: 1. In Nostra aetate wird das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen behandelt. Dort heißt es: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen.“ 2. Im Dekret zur Religionsfreiheit, Dignitatis humanae, bezeichnet das Konzil ausdrücklich die Kirche selbst als Religion und zwar als die „einzig wahre“: „Gott selbst hat dem Menschengeschlecht Kenntnis gegeben von dem Weg, auf dem die Menschen, ihm dienend, in Christus erlöst und selig werden können. Diese einzige wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen, apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten.“ Da es für uns heute jedoch nur um die Frage nach der Religion als solche geht, überlasse ich den vom Konzil erhobenen Anspruch, die wahre Religion zu vertreten, der weiteren Diskussion. 3. Schließlich gibt es in der Konstitution „Kirche in der Welt von heute“ Gaudium et spes ausführliche Passagen über den (hauptsächlich marxistischen) Atheismus (19-21), mit dem Zusatz: Wenn manche „religiöse Fragen zu vermeiden suchen“, trügen auch die Gläubigen dafür eine gewisse (Mit-) Verantwortung.

Vor allem die Erklärung Nostra aetate kann als eigentlicher Fundort für die Umschreibung dessen, was Religion ist, angesehen werden, nämlich: ein Antwortversuch auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins. Gaudium et spes fügt hinzu: Bis zum Ende der Tage bleibt „jeder Mensch vorläufig sich selbst eine ungelöste Frage, die er dunkel spürt. Denn niemand kann in gewissen Augenblicken, besonders in den bedeutenderen Ereignissen des Lebens, diese Frage gänzlich verdrängen.“ (19) Wohlverstanden: Lt. Konzil bieten die Religionen keine Auflösung der Rätsel des Lebens. Vielmehr heißt es, dass diese „heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen.“ Wir fragen: Wird hier behauptet, das Christentum böte die Lösung und darin unterscheide es sich von den erwähnten „verschiedenen Religionen“? Eindeutig nein! Dagegen muss festgehalten werden: Bei der Nennung der „verschiedenen Religionen“ hat das Vatikanum das Christentum bzw. die Kirche als Religion und zwar als die „einzig wahre“ (wie sie sich ausdrücklich in Dignitatis humanae versteht) offenbar nicht ausgenommen.

Elementare Fragen

Es handelt sich bei den erwähnten ungelösten Fragen unverkennbar um religiöse Fragen. Für uns geht es hier heute jedoch nicht um die Religionen als einzelne und deren Inhalt, noch weniger um deren theologische Beurteilung. Das weltweite Phänomen muss zunächst als etwas allgemein Menschliches verstanden werden. Die Verlegenheit angesichts im Grunde unbeantwortbarer Fragen kann manchmal aber verdeutlicht werden, wenn wir christliche Antwortversuche zum Vergleich heranziehen. Dabei darf jedoch nie übersehen werden, dass solche Deutungen außerhalb des christlichen Glaubens keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können.

Ungelösten Rätseln, von denen das Konzil spricht, begegnet zweifellos jeder Mensch im Leben, oftmals nicht wenigen im Übermaß, vor allem, wenn sie von harten Schicksalsschlägen heimgesucht werden. Aber für jeden Menschen gibt es unvermeidlich im Leben die folgenden fünf elementaren Fragen, auf die es für kein menschliches Wissen eine Antwort, oder nur unzulängliche Antworten gibt. Die Frage, wie weit hier religiöse Lehren und damit ein persönlicher Glauben tragen können, d.h. in bestimmten Grenzen die Rätsel erträglich machen, ist hier nicht unser Thema. Die Fragen als solche, denen die Religionen sich konfrontiert sehen, sollen aber mit dieser Feststellung in ihrer Bedeutung nicht geschmälert werden. Ich meine folgende:

  1. Was war am Anfang? Christlich ausgedrückt: vor der Schöpfung, naturwissenschaftlich ausgedrückt: vor dem (heute allgemein angenommenen) „Urknall“. Gab es vorher nur nichts? Kann es überhaupt das Nichts „geben“ oder je gegeben haben, kann es je wieder nur nichts geben? Oder gab es zuvor schon anderes? Augustinus gibt die Antwort: Im Anfang war nur Gott. (Conf. XI) Außer Gott war zuvor: nichts. Erst seit Beginn der Schöpfung gibt es „die Zeit“ und damit ein vorher und nachher. Die Allgemeine Relativitätstheorie könnte vielleicht inzwischen diesen Gedanken etwas plausibler erscheinen lassen. Welche Antworten oder Antwortversuche andere Religionen anbieten, weiß ich nicht oder lasse ich außer Betracht. Wir können nicht leugnen: Kein Mensch hat eine wirkliche Antwort.
  2. Was ist am Ende? Die Naturwissenschaften sprechen vom Wärmetod des Universums. Was ist danach? Sind das nur Hirngespinste, und ist es dem Menschen überhaupt erlaubt, so zu fragen? Das Interesse danach zu fragen verbietet uns Menschen jedoch niemand. Gewiss haben wir keine endgültige Antwort. Der Glaube sagt, dann werde „Gott alles in allem“ sein, das Reich Gottes werde überall herrschen. Aber was heißt das?
  3. Als brisanter werden solche Fragen empfunden, wenn wir sie auf unser eigenes Leben beziehen. Kein Mensch weiß, was mit ihm nach seinem Tode sein wird. Die Bibel hat dafür eine Fülle von Bildern. Das ewige Leben? Aber eine wirkliche Antwort haben auch Gläubige darauf nicht, weil sie nichts wissen. Andere behaupten, sicher zu sein, daß mit dem Tod alles aus sei. Nach dem Tod sei alles vorbei, der Mensch gehe wie ein Tier zugrunde.

Noch einmal sei gefragt: Liefert uns der christliche Glaube eine Antwort auf solche Fragen der Menschen? Auch nach christlicher Lehre gibt es den Glauben nur für die auf Erden Lebenden. Verheißungen gibt es für das, was nach dem Tode kommt. Aber auch diese Verheißungen werden nur als wahr erkannt auf Grund von Glauben. Selbst wenn der Papst einen Menschen heiligspricht, sagt das nichts über dessen Zustand nach dem Tode aus. Die Kirche regelt nur die Frage, ob der Betreffende auf Erden öffentlich verehrt werden darf.

  1. Völlig unzureichend werden nach meiner Meinung erst recht die Fragen nach dem Beginn jedes einzelnen menschlichen Lebens behandelt, wenn sie überhaupt zur Sprache kommen. Mit der Kenntnis der Evolutionstheorie und der physiologischen Vorgänge, die zur Geburt eines neuen Menschen führen, sei alles gesagt, meinen viele. Obwohl ich selbst nur wenig Gelegenheit habe (abgesehen durch die Lektüre von Renė Spitz), zu beobachten, wie ein Kind nach und nach seine Umgebung wahrzunehmen und Beziehungen zu seinen Eltern und zu anderen Menschen aufzunehmen lernt, halte ich den Anfang eines neuen menschlichen Lebens jeweils für ein wirkliches Wunder. Auf unvergleichliche Weise lernt ein Kind, sich selbst im Unterschied zu anderen Wesen zu verstehen, zu sprechen, seinen Namen zu verwenden und am Ende „ich“ zu sagen. Das heißt aber nicht weniger als: Im Bewusstsein des jungen Menschen ist eine neue Welt entstanden.

Platon glaubte, über die Verhältnisse vor der Geburt Bescheid zu wissen. Das Phänomen der Erinnerung sei nur durch eine Präexistenz der Seele zu erklären, war er (oder auch schon Sokrates) überzeugt. (Phaidon 72e) Aber das war schließlich nicht mehr als sein Glaube. Wir müssen gestehen: Ignoramus et ignorabimus.

  1. Die Rätsel des menschlichen Lebens, selbst wenn sie im Alltag oft fast vergessen werden, nötigen uns schließlich doch einmal, uns zu fragen, was es mit uns Menschen sei und damit nach dem oft gesuchten „Sinn“ des Lebens zu fragen. Für uns als Vertreter der Kirche ist es zwar meist ein Routinethema, aber eine allgemein gültige Antwort hat niemand von uns. In der Erklärung zur Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) heißt es: „Weil die Menschen Personen sind, d. h. mit Vernunft und freiem Willen begabt und damit auch zu persönlicher Verantwortung erhoben, werden alle – ihrer Würde gemäß – von ihrem eigenen Wesen gedrängt und zugleich durch eine moralische Pflicht gehalten, die Wahrheit zu suchen (!), vor allem jene Wahrheit, welche die Religion betrifft.“

Das scheinen mir die erwähnten fünf elementaren Fragen zu sein. Alle Religionen, die überhaupt ihren Namen verdienen, sind Versuche des Menschen, mit diesen Fragen fertigzuwerden, wenngleich sich daraus vielfach wieder neue Fragen ergeben. Mit Worten des Konzils: „Im Zusammenhang mit dem Fortschreiten der Kultur suchen die Religionen mit genaueren Begriffen und in einer mehr durchgebildeten Sprache Antwort auf die gleichen Fragen.“ Keine Religion besitzt jedoch in dieser Beziehung ein Monopol, weil keine eine allgemeingültige und deshalb endgültige Antworten zu geben weiß. Manchen Glaubensgenossen scheint dennoch unsere christliche Sicht derartig selbstverständlich, dass sie die zugrundeliegenden Fragen häufig nicht einmal mehr als Fragen wahrnehmen können.

Zwei zusätzliche Überlegungen können die Frage nach der Religion verdeutlichen.

  1. „Gibt es den homo areligiosus?“

Manche fragen sich: Kann man überhaupt ohne Religion auskommen? Oder gibt es den homo naturaliter religiosus? Die Welt der Religionen ist ständig in Bewegung. Es gibt auch immer wieder ein Auf und Ab. Aus unserer Sicht ist allerdings ein relativ neues Phänomen besonders bemerkenswert, ich meine das Phänomen völliger Areligiosität und damit das Ausbleiben jeglichen religiösen Interesses. Diese Diagnose wird weder leichter noch besser, wenn wir andererseits einfach die Fülle religionsanaloger Phänomene, die oftmals als Pseudo- oder Ersatzreligionen bezeichnet werden, mit den herkömmlichen Religionen in einen Topf werfen in der stillen Hoffnung diesen Befund damit entschärfen zu können.

In einer Vorlesung mit dem Titel „Homo areligiosus“ erklärte Eberhard Tiefensee (2001) als Erwiderung auf eine Publikation mit der Gegenthese: Es bleibt „eine kühne Behauptung, es gäbe wahrscheinlich keine Menschen ohne Religion, wenn man die Lage hier in Ostdeutschland betrachtet.“ Tiefensee beschreibt eingehend etliche Beispiele von „areligiösen“ Menschen, die keineswegs einen konkreten Glauben verloren oder aufgegeben haben, ihn vielmehr nicht einmal kennen. Die Realität Religion ist ihnen überhaupt völlig fremd, nie wirklich begegnet, ohne dass sie deshalb als „gottlos“ gelten müssen. Wir sollten auch nicht vergessen, dass wir alle lt. Evangelium einmal selbst den Richter fragen werden: „Wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen?“

Mir scheint, dass wir das Phänomen völliger Areligiosität mit gleicher Ernsthaftigkeit respektieren müssen, wie wir im Laufe der Geschichte mühsam gelernt haben, mit fremden Religionen vernünftig umzugehen. Die Behauptung, der Mensch sei von Natur aus und insofern unvermeidlich religiös, ist offenbar ein Irrtum. [1]

Interessant (in diesem Zusammenhang) könnte noch eine andere Beobachtung sein. Papst Franziskus ist immer wieder Forderungen oder Erwartungen ausgesetzt, überkommene kirchliche Lehren oder Lehrdeutungen aufzugeben oder zu modifizieren. Erstaunlicherweise zeigt er dafür (bisher) keinerlei Neigung oder Bereitschaft. Dennoch setzen viele Christen weiterhin auf ihn große Erwartungen. Ich frage mich: Zeigt sich vielleicht auf diese Weise, dass man doktrinäre Fragen vergleichgültigen kann, sobald die Kirche in ihrer Praxis mehr Menschenfreundlichkeit übt? Ist ihre Sache vielleicht mehr der Einsatz in Sachen Lebenshilfe, bzw. sollte es sein, mehr als metaphysische Probleme zu lösen oder sich ständig mit Einzelheiten der traditionellen Lehre zu beschäftigen? Eine Frage, auf die wir noch [am Schluss] zurückkommen müssen

  1. Ist das Christentum – eine (gewöhnliche) Religion?

Bei der Beantwortung dieser Frage, die in unserem Zusammenhang nicht übergangen werden darf, beschränke ich mich auf Autoren, die wir als Referenten bei JV der AGP hatten.

Paul Hoffmann (1979) „Wie politisch war Jesus?“:  „Ich will „deutlich machen, worum es mir bei der Rückfrage nach der Gottesrede des Jesus von Nazaret geht: Ich lasse mich auf seine Sprachwelt ein und suche ihn zu begreifen – als eine Stimme in der langen Reihe menschlicher Versuche, eine Antwort auf die Herausforderung der Wirklichkeit, konkret seiner Wirklichkeit zu finden. Im Sinne des programmatischen Buchtitels Hans Blumenbergs frage ich nach Jesu Beitrag zur menschlichen „Arbeit am Mythos“ (1979). Das schließt nicht aus, dass andere Ähnliches vor ihm, neben und nach ihm geleistet haben. Ich tue das, weil ich der Meinung bin, dass seinem Beitrag auch heute noch durchaus Relevanz zukommt.“ (Jesus von Nazareth und die Kirche)

Thomas Pröpper (1985) „Gottes bedingungsloses Ja – Gemeinde als Ort dieser Glaubenserfahrung?“: In der Geschichte Jesu geschah die Selbstoffenbarung Gottes. Damit „soll keineswegs gesagt sein, dass sich Gott nicht auch auf anderen Wegen den Menschen kundmacht und kundgemacht hat, und ebenso wenig ausgeschlossen werden, dass in anderen Religionen auch wahre und gültige Gotteserkenntnis begegnet. Erst recht kann es nicht darum gehen, die besondere Geschichte Jesu aus ihrem Zusammenhang mit der Glaubens- und Bundesgeschichte Israels zu lösen.“ (Theologische Anthropologie I, 69)

Karlheinz Ohlig 2001 „Christentum – Religion unter Religionen?“: Generell gilt: […] „Seit der „kritischen Wende“ wissen wir, dass sich unsere Erfahrung und Erkenntnis nicht auf Gott, sondern auf Welt und Geschichte – und unsere Rolle in ihnen – beziehen, an Hand derer, bzw. dessen, was wir von ihnen erkennen, wir die Sinnfrage stellen und – auf Hoffnung hin – positiv beantworten. Der Satz „Gott ist“ bedeutet also, kritisch gewendet: „Ich bzw. wir erfahren Welt und Geschichte so, dass ich bzw. wir darauf setze(n), dass sie sich als sinnvoll erweisen werden.“ Weil dieser Sinn in Welt und Geschichte nicht gegeben ist, verweist diese Aussage auf einen welt- und geschichtstranszendenten Bezugspunkt, „Gott“, hin. Diese Hoffnung ist nur möglich, weil es in aller absurden, schuldigen und scheiternden Geschichte auch Positivitätserfahrungen gibt, die es verbieten, Sinnlosigkeit als letztes Wort anzusehen. Theologie ist also nicht Wissenschaft von Gott, sondern wissenschaftliche Analyse und Begründung des Redens von Gott.“ (SOG-Papiere 2005/5 Utsch) Man kann hinzufügen, dass die Theologie sich in der Beziehung in keiner anderen Situation befindet als andere Wissenschaften. (vgl. Lenk, Interpretation und Realität).

Um aus solchen Einsichten Konsequenzen ziehen zu können, haben wir uns 2005 als AGP im Blick auf ein fiktives drittes vatikanisches Konzil gefragt: „Was sind wir der Welt schuldig?“ Aus der ernüchternden Tatsache dass wir ein Leben lang darauf angewiesen sind, nach Gott zu fragen, ergab sich: „Die biblische Offenbarung rechtfertigt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit über den Bereich der Glaubenden hinaus und begründet keine Verbindlichkeit für alle und jeden. Vielmehr müssen wir offenlassen, auf welchem Wege und an welchen Orten sich der unbegreifliche Gott finden lässt. Das schließt die persönliche Überzeugung nicht aus, dass wir in unserem christlichen Glauben, der auf dem Zeugnis der Bibel beruht, dem unausschöpfbaren Geheimnis Gottes besonders nahe sind.“ (cp)


B   Die Beständigkeit von Religion

 

Wenn die Religionen ein Antwortversuch auf die ungelösten und unlösbaren Rätsel des Lebens sind, so bleibt die weitere Frage, wie die relativ beständige Verbreitung der Religionen (80 % der Weltbevölkerung) und damit das Phänomen ihrer ständigen Weitergabe erklärt werden können. Provozierend gefragt: Warum sind die Religionen bisher nicht ausgestorben?

Es muss ein menschliches Bedürfnis geben, das die Entstehung einer Religion, wenigstens die Bereitschaft, ihr anzugehören, veranlasst, oder begünstigt. Das gesuchte Grundbedürfnis müsste sich bei Menschen aller Altersstufen melden und nachweisen lassen. Es dürfte nicht auf bestimmte Bildungsgrade oder deren Fehlen begrenzt sein. Es müsste auch im Laufe der Geschichte oder gegenwärtig nicht verschwunden gewesen sein oder verschwinden. Auch die ökonomische Situation dürfte als Kriterium für den Wunsch oder das Bedürfnis nach Religion nicht entscheidend sein, vielmehr sich prinzipiell sowohl bei Reichen wie auch bei Armen melden, was nicht ausschließt, dass Wohlstand und Luxus zwangsläufig Spuren hinterlassen. Auch gesellschaftliche Macht und Ohnmacht sind für das Auftreten von Religion nicht entscheidend, obwohl Karl Marx, wie wir gesehen haben, sehr scharfsichtig einen Aspekt der Religion hervorhebt, den er religiöses Elend nennt und gleichzeitig als „Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend“ anprangert.

Als Antwort auf die Frage, welches allgemein menschliche Bedürfnis der Entstehung und Verbreitung von Religionen zu Grunde liegt, empfiehlt sich, wie mir scheint, eine Antwort, die meines Wissens bisher in diesem Zusammenhang nicht vertreten worden ist. Meine These heißt: Allen Formen von Religion liegt das Bedürfnis zugrunde, sich in der Welt und Umgebung orientieren zu wollen.

Selbstverständlich können sich Orientierungsbedürfnisse nicht in der Bereitschaft erschöpfen, einer Religion zu folgen. Orientierungsbedürfnisse müssen ebenso wenig in jedem Fall zu religiösen Antworten führen und erklären noch weniger deren historischen Ursprünge. Religionen sind aber (nicht immer erfolgreiche) Versuche, mit den erwähnten Problemen fertig zu werden.

Das charakteristische Bedürfnis tritt zunächst beim kleinen Kind auf, das sich in seinem Bereich und unter den Gegenständen und Personen seiner kleinen Welt zurechtfinden muss. Die gesamte Sozialisation in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit bietet und verlangt zugleich Orientierung. Dieses Grundbedürfnis tritt jedoch auf jeweils eigene Weise in allen Altersstufen auf und zwar auf eine Art und Weise, die nur der betreffenden Person zu Eigen ist. Als Sinnenwesen sind wir darauf angewiesen, dass unsere Sinne und Vermögen uns helfen, uns in unserer Umgebung zurechtzufinden. Wir versuchen, uns auf das einzustellen, was uns bevorsteht. Selbstverständlich gibt es dafür nicht nur triviale Beispiele. Es gibt sie überall, in allen Berufen, Wissenschaften und Künsten. Auffällig ist dabei, dass es in der Regel einen gewissen Gegensatz gibt, in dem der Umfang der Kenntnisse einerseits und die Detailkenntnisse andererseits zueinander stehen. Auch heute fällt es nicht schwer, Zeitgenossen zu begegnen, die in ihrem Fach (oder Hobby) äußerst kundig sind, aber von verblüffender Ignoranz oder Gleichgültigkeit in anderen Lebensbereichen, sog. Fachidioten. Damit folgen sie einer logischen Regel für Begriffe: mit dem größeren Umfang verlieren sie an Inhalt.

Natürlich ist die oben vertretene These zunächst in vollem Sinn nur für Menschen in einem Altersstadium zutreffend, denen in ihrer Umgebung solche Traditionen wie die der Religion als unbezweifelt gewiss begegnen und deren Maximen deshalb widerspruchslos internalisiert werden. Voraussetzung ist weiterhin, dass der junge Mensch in einer religiös einigermaßen homogenen Umgebung groß wird. Diese Phase beschreiben Berger/Luckmann (u. andere) als „primäre Sozialisation“. Die Einsicht in die von diesen Autoren sogenannte „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ zeigt aber, dass auch erwachsene Menschen weiter mit religiösen Vorstellungen, Vorschriften etc. umgehen können, die für sie schlechthin zum Alltag gehören und relevant sind, obwohl die eigenen handfesten Erfahrungen oft völlig andersartig sind. In der Regel bleiben solche konträren, scheinbaren „Selbstverständlichkeiten“ ein Leben lang bestehen, solange die Betreffenden den Glauben teilen, den sie gewohnt sind. Christliche Religionssoziologen sprechen oder sprachen deshalb in diesem Zusammenhang von der „Volkskirche“.

Das bedeutet: Es besteht eine Koexistenz von Alltagswelt und den „Realitäten“, die nur dem Gläubigen „erkennbar“ sind und manchmal als außernatürlich verstanden werden. Richtiger gesagt: Diese durchdringen dessen Alltag, so dass für ihn eine eigene Welt entsteht, in der das „Übernatürliche“ als natürlich empfunden wird. Für den wirklich Gläubigen besteht eine Symbiose, die keine Trennung zulässt zwischen der alltäglichen und der religiösen Welt.

Denn jeder Mensch lebt in seiner Welt und erfährt diese auf eigene Weise. Gesunde Menschen erleben sie als eine, die zum größten Teil auch die Welt anderer ist und als objektiv gilt. Nur diese so geprägte Welt hat erst die Chance, im Sinne von Max Weber „entzaubert“ zu werden. Wer genauer hinsieht, kann auch heute noch entdecken, dass nicht deutlich definierbare überkommene und partiell absterbende Vorstellungen mit dem etablierten säkularen Wissen koexistieren, wenn etwa weiterhin täglich die Sonne „untergeht“ und alljährlich Weihnachten gefeiert wird. Ganz absehen müssen wir dabei noch von anderen Lebensbereichen, in denen heute die Maxime gilt „Man muss dran glauben“ (vgl. Hörisch).

Trotz aller religiösen Spekulationen und Theorien bleiben die genannten 5 elementaren Fragen letztlich ungelöst. Auch im Christentum haben wir auf diese Fragen (und viele andere) keine endgültig zufriedenstellenden Antworten. Der wiederholte Paradigmenwechsel in der Geschichte der Wissenschaften spricht ebenfalls eine deutliche Sprache. Es tauchen immer neue Probleme und Rätsel auf. Auch die Religionen können auf die an sie gerichteten Fragen deshalb keine endgültigen, ein für alle Mal unveränderliche Antworten finden, die unser Fragen zum Schweigen bringen könnten. Dennoch können sie in Bezug auf die erwähnten Rätsel des Lebens wie auch auf viele andere Fragen vielfach hilfreiche Antworten geben. Nicht zu vergessen sind ihre Impulse für eine ethische Orientierung.

Lebenshilfe

Paolo Flores d’Arcais scheint mit dem Stichwort „Lebenshilfe“ ähnliche Gedanken zu verfolgen. Der italienische Philosoph, der auch in Deutschland bekannt wurde, weil er am 21. Februar 2000 mit dem damaligen Präfekten der GK Kardinal Joseph Ratzinger ein öffentliches Streitgespräch mit dem Titel „Gibt es Gott?“ durchgeführt hatte. Er betont in seinem Aufsatz „Eine Kirche ohne Wahrheit?“: „Die Einwände einer überwältigenden Denktradition, für die Namen wie Hume, Freud und Monod stehen, werden verdrängt, und man setzt sich statt dessen mit Hermeneutik und einer Philosophie in der Nachfolge Heideggers auseinander. Damit beweist die katholische Kirche, dass sie trotz gegenteiliger Behauptungen ihre Lehre als Lebenshilfe und nicht als Wahrheit verstanden wissen und proklamieren will. Und wenn es dennoch um die Wahrheit geht, dann nur um den Sinn des Lebens.“

Trotz aller Bedenken besitzt der christliche Glaube nach meiner Meinung seinen Wert, wie die anderen konkreten Religionen jeweils auf ihre Weise ebenfalls. Ich vergleiche deren Rolle gern mit einem Beispiel aus der Literatur. Ich meine die vergebliche Hoffnung der Eingesperrten im Warschauer Judenghetto, ihre Hoffnung, daß sie die Rote Armee rechtzeitig vom Terror der Nazis befreit, wie sie Jurek Becker in seinem Roman „Jakob der Lügner“ schildert. Ich meine, Religionen können ähnlich dem Gläubigen immerhin helfen, mit seinem eigenen Leben und im Zusammenleben mit anderen besser zurechtzukommen. Dabei bleibt in unserem Fall letzten Endes die definitive Gewissheit über unser Schicksal aus, solange wir leben. Da hat es der Romanautor einfacher, er kennt das tatsächliche, in jenem Fall allerdings trostlose Ende der Geschichte.

 

 

[1] Erwägungen aus einem Vorentwurf: Innerhalb des AT wird die Schöpfung, richtiger das Geschaffensein der Welt, praktisch nie als Gegenstand des Glaubens verstanden. Dadurch wird nicht beeinträchtigt, biblisch die vorhandene Welt stets in Verbindung mit Gott zu sehen (nach Claus Westermann). Alle Menschen leben in der Welt Gottes. Ich frage mich, ob die Feststellung Westermanns ein Schlüssel sein kann, die völlige Abwesenheit von Religion bei vielen Zeitgenossen nicht von vornherein als bloßen Mangel einzuschätzen, sie vielmehr inzwischen wie eine Art anderer Religion oder Konfession zu betrachten (vgl. Apg 17,24.28). Ein ähnliches Argument findet sich schon bei Jean Daniėlou bezügl. einer religion cosmique des Noebundes (s. Schlette mit Blick auf nichtchristl. Religionen, Die Kirche und die Religionen in: Aporie und Glaube). Vgl. auch Mt 25,31-46.