„Wie kann Gott das zulassen?“ Diese Frage wurde mir sehr oft bei Unglücksfällen gestellt. Anlässe dazu waren äußerst unterschiedlich. Häufig wurden sie aus reichlich banalem Anlaß, sehr oberflächlich geäußert. Die Antwort auf diese Frage hätte sich der Fragesteller nach wenigem Nachdenken längst selber geben können. Voraussetzung wäre nur, daß er bereit gewesen wäre, eine mögliche Ursache des Unglücks als Versagen bei sich selber zuzugeben oder bei dem Opfer selber zu suchen. Solche denkbaren Umstände im einzelnen zu untersuchen, lohnt sich in der Regel von vornherein nicht.
Desto problematischer sind häufig tragische oder als solche empfundene Anlässe, die meist als blinde Schicksalsschläge empfunden werden. Bei solchen Gelegenheiten wird die Frage nach Gott häufiger bewußter und oft äußerst leidvoll gestellt. Solche Erlebnisse zeigen dann, wie akut die Frage nach Gott tatsächlich ist. Eine derartige Frage wird nicht notwendig nur von wirklich Gläubigen gestellt. Desto aufschlußreicher sind solche Fragen aus dem Mund ungläubiger oder dennoch fragender Menschen. In kritischen Augenblicken äußert sich womöglich ein im Alltag unbewußtes Suchen nach Gott.
Das darf jedoch nicht mißverstanden werden, als ob die betreffende Person mit der Frage nach der Zulassung eines Unglücks durch ein unbekanntes „Schicksal“ damit bereits die Zuständigkeit und damit das Vorhandensein Gottes eingeräumt hätte. Wie das viel gebrauchte Wort Schicksal schon durchblicken läßt, steckt hinter einer solchen Äußerung meist nicht mehr als eine recht diffuse Unzufriedenheit mit dem Lauf der Dinge überhaupt.
Diese Beobachtung beschreibt Karl-Heinz Ohlig in anderem Zusammenhang: „Wer aber keinerlei Wahrnehmung oder Erleben der Sinnhaftigkeit von Menschsein und von konkreten Menschen hat, kann in Situationen extremen Leidens und Unrechts nur verzweifeln oder resignieren.
Wenn wir [hingegen] überhaupt – wahrhaftig angefochten – hoffen, dann nur, weil wir uns mit aller Kraft bemühen, trotz allem sich aufdrängenden Chaos, die Sensibilität für – und in bestimmten Situationen vielleicht auch nur noch die Erinnerung an – gelungene Humanität oder auch nur wahrhaft humane Erfahrungen nicht zu verlieren.
Diese anthropologische Begründung von Hoffnung ist allen Religionen gemeinsam. Andere Begründungen gibt es nicht. Zwar sprechen viele Religionen – auch das Christentum – von einem Festmachen der Hoffnung in Gott; theozentrische Modelle erweisen sich aber – kritisch betrachtet – als Extrapolationen entsprechender humaner Bedingungen. Die Liebe der Eltern, von und zu Freundinnen und Freunden, Partnerinnen und Partnern sowie Kindern, eine erfahrene Solidarität, die Freude am Leben, an Körper und Geist, an Beruf usf. alles das läßt uns aufbegehren gegen die scheinbar so plausible Sinnlosigkeit und hoffen auf einen – für uns noch ungreifbaren – letzten Sinn, auf Gott.“
Oft läßt also die Erfahrung von Augenblicken oder Zeiten des Glücks nach Sinn und Gott fragen. Radikaler lassen aber Zeiten und Stunden des Unglücks und völlige Ratlosigkeit nach dem Sinn des Lebens und letztlich nach Gott fragen und suchen.
An dieser Stelle sollte auch an mehr spekulative Erwägungen zum Thema Gott erinnert werden. Bekanntlich gelten für Immanuel Kant die Unsterblichkeit der Seele, die Freiheit des Willens und das Dasein Gottes als Postulate der Praktischen Vernunft. Mir scheint, daß seine Wortwahl ein Grund dafür ist, daß damit der Begriff „Postulat“ für viele damit weithin endgültig als besetzt oder gesperrt gilt. Denn sich auf die Ebene einer Diskussion mit Kant zu begeben trauen die meisten Zeitgenossen sich nicht zu. Auf der anderen Seite geht mancher mit der Gottesproblematik wie mit einem Postulat um, ohne das heikle Stichwort seinerseits zu bemühen. Aber der Sachverhalt, daß mancher den Wunsch oder die eindeutige Erwartung, daß Gott existiert, sich zu eigen macht, ist deutlich erkennbar. Manche Stimmen klingen geradezu fordernd, als wenn sich Gott dafür zu rechtfertigen habe, daß er sich so verborgen halte und den Lauf der Welt gewähren lasse. Dieser Umstand dürfte es erlauben, die Existenz Gottes durchaus als wünschenswert, geradezu als Postulat zu vertreten.
Vor allem sind solche Stimmen zu registrieren, welche die Abwesenheit Gottes oder den bedauernswerten Zustand der Welt bitter beklagen. Als hervorragende Beispiele seien folgende genannt.
Etwa die Klage des biblischen Hiob, der in Verzweiflung ausruft (3,3 und 11): „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, die Nacht, die sprach: Ein Mann ist empfangen. Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, kam ich aus dem Mutterleib und verschied nicht gleich?“
Der Apostel Paulus gibt 1 Kor 15,19 folgende Antwort: „Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen.“
Von Fjodor Michailowitsch Dostojewski kennen wir die Schilderung eines Ivan Karamasow, der angesichts auf Erden gequälter Kinder ausruft: „Es ist überhaupt nicht unseren Vermögensverhältnissen angemessen, so viel für das Eintrittsbillett [in diese Welt] zu zahlen. Deshalb beeile ich mich auch, mein Eintrittsbillett zurückzugeben.“
Und schließlich erklärt nach den Schrecken des letzten Krieges und der Naziverbrechen 1968 (Kritische Theorie) Max Horkheimer:
„Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen, dass die letzten Hoffnungen auf eine über-menschliche Instanz kein Ziel erreichen und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich.“
Gewiß kann kein Sterblicher auf derartige Klagen eine wirkliche Antwort geben.
Es gibt ein beinahe brachiales Verfahren, solche Klagen und Fragen geradezu abzuwürgen. Von Friedrich Nietzsche ist ein Diktum bekannt, das offensichtlich deutlicher das Merkmal der Effekthascherei trägt, als daß es als nüchternes Sachargument in einem Disput den Gegner überzeugen könnte, für den der Atheismus keine von vorn herein ausgemachte Sache ist.
„Vielleicht bin ich selbst auf Stendhal neidisch? Er hat mir den besten Atheismus-Witz weggenommen, den gerade ich hätte machen können: „Die einzige Entschuldigung Gottes ist, daß er nicht existiert.“
Bei anderer Gelegenheit gibt Nietzsche durchaus zu erkennen, daß ihm die Dramatik der Gottesfrage nicht völlig fremd ist, wenn er dem „tollen Menschen“ folgende Worte in den Mund legt:
„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?« rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen (Die fröhliche Wissenschaft. Nietzsche-W Bd. 2, S. 126 ff.)
Was bei der Gottesfrage überhaupt auf dem Spiel steht, deutet auch Jean Paul mit seiner Skizze an, die den Titel trägt: „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab. daß kein Gott ist“:
„ Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker… Alle Gräber waren aufgetan— Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe … hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?« Er antwortete: »Es ist keiner.«
… Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten, denn Er ist nicht!
Ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern…. als ich erwachte.
Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet.“ [Jean Paul: Siebenkäs].
Bei weniger theatralischen Anlässen geben manche durchaus zu erkennen, daß für sie die Frage nach Gott nicht weniger als die Frage nach dem Sinn ihres gesamten Lebens darstellt.
Ein endgültiger Verzicht auf vergleichbare Fragen und Klagen steht andererseits niemandem, erst recht keinem Christen, zu.
Kurzum: Ob wir Menschen nach dem Tod eine Zukunft haben werden, die wir als Christen seit Jahrhunderten mit der Erwartung eines „ewigen Lebens“ bzw. einer Auferstehung verbinden, weiß ich nicht. In Erwartung eines Lebens jenseits des Todes sind wir nicht besser dran als die Menschen längst vergangener Zeiten, denen die Welt noch rätselhafter erschien als uns Heutigen. Besonders eindrucksvoll ist das Zeugnis aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, von Heraklit aus Ephesus:
„Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht entdecken da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich bleibt.“ (Diels/Kranz 22 B8)
Das Fragment B27 zieht daraus die Konsequenz: den Menschen würde im Tod erwarten, was sie weder erhoffen noch vermuten
Manche traditionellen Vorstellungen von einem „Jenseits“ sind nicht mehr zu halten. Die Frage bleibt: Können wir Zeitgenossen dennoch äußerst zaghaft hoffen, daß die unschuldigen Opfer der Geschichte nicht endgültig verloren sind?
Auf die vorwitzige Frage „Wie kann Gott (dies und das) zulassen?“ bekommen wir keine Antwort, so lange wir nicht einmal wissen, ob überhaupt ein Gott ist: unser sterbliches Leben lang.
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