Unter dem Titel „Religionen leben länger“ hatte ich gefragt, warum es überhaupt Religionen gibt (A) und im folgenden Abschnitt („Die Beständig-keit von Religion„), wie in religiös homogenen Gesell­schaften deren merkwürdige Tradierung erklärbar ist, selbst wenn konträre Alltagserfahrungen derartige Traditionen völlig ignorieren, wenn nicht sogar weitgehend zu falsifizieren scheinen. (B) Geplant war, später auch die Frage nach der Religion außerhalb religiös einheitlicher Umgebung zu stellen. (C) Dem soll folgender Versuch gelten. Wer selbst in einer stark religiös geprägten Familie und infolgedessen in einem gegenüber dem Nazismus weitgehend immunen privaten Milieu großgeworden ist, muß selbstverständlich bei dieser Frage stärker Literatur, d.h. Hilfe aus zweiter Hand, in Anspruch nehmen. Andererseits bedeutet das zugleich, sich nicht nur dem Phänomen religiös heterogenem Herkommens gegenüber zu sehen sondern auch, bei vielen Zeitgenossen das Phänomen mit dem Alter zunehmender kirchlicher Abständigkeit wahrzunehmen.

In den folgenden Überlegungen möchte ich aus gewisser Distanz solchen Phänomenen nachspüren. Nur zur Verdeutlichung erwähne ich hier und da eigene Erfahrungen, häufiger auch theologische Aspekte. Damit sind jedoch keine biographischen, geschweige denn theologische Ambitionen verbunden. Ich frage mich nur, ob es Gründe geben könne an der überlieferten Religion festzuhalten und entsprechend Kinder zu erziehen, wenngleich man vielleicht die erlernte, häufig gepredigte oder nur stillschweigend vorausgesetzte Prämisse einer unmittelbaren göttlichen Legitimation der herkömmlichen Lehre für sich nicht mehr gelten lassen kann. Auf die Praxis der Kindertaufe gehe ich unten noch einmal ein. Mit anderen Worten sei danach gefragt, ob man sich auch dann noch einen Gewinn mit der Praktizierung religiöser Traditionen versprechen könne und insofern eine Lebenshilfe erfahre, wie ich am Ende des Textes B vermutet hatte.

Mir scheìnt, diese Frage ist positiv zu beantworten. Der Ausgangspunkt sei noch einmal unmißverständlich klargestellt. Angenommen wird, daß der früheren Begründung einer Religion, diese sei von Gott als solche geoffenbart worden, der Boden entzogen ist. Damit muß keineswegs ein Atheismus verbunden sein, vielmehr schließt diese Position lediglich einen Agnostizismus ein. Die Frage nach der Existenz Gottes bleibt deshalb außerhalb einer Religion ohne Antwort.

Nach meinem Verständnis stünde ein solches Vorgehen nicht isoliert da. Auch im profanen, völlig säkularen Bereich gibt es dazu Parallelen. Ich nenne drei Beispiele: aus der Ökonomie, aus der Physik und aus der Mathematik. Ohne Anspruch darauf, ewige  Wahrheiten zu verkünden, spielt auch dort ein gewisser Glaube an jeweilige Prämissen eine offensichtliche Rolle. Die drei Beispiele sind verschieden untereinander. Das erste ist von anderer Art als die beiden nächsten. (Vermutlich bedarf der ganze folgende Abschnitt in den Augen kompetenter Fachleute der Konkretisierung.)

  1. Glaube so und so

Selbst in der politischen Ökonomie werden politische Meinungen nicht selten mit religiöser Inbrunst vertreten oder sind auch von der religiösen Orientierung der Akteure abhängig. Vor allem scheint es durchweg, daß dort stärker Kriterien der Betriebswirtschaft als aus der Volkswirtschaft zu Tage treten. Die ökonomische Praxis ist daher nicht nur von der jeweils herrschenden Politik bestimmt sondern zwangsläufig zuvor schon abhängig von den dominierenden Tendenzen der Wirtschaftswissenschaft.

In seinem Buch „Man muss dran glauben“ hat Jochen Hörisch einschlägige Beispiele aus der Ökonomie benannt, aus einem Lebensbereich, der nach herrschender Meinung als ein Ausbund purer Rationalität gilt. Dort gibt es jedoch häufig nicht bewiesene, vielfach unbeweisbare Annahmen. Etwa wenn die Wirtschaft nur ungehindert hohe Profite erziele, sei das auch für den kleinen Mann das Beste. Mit Vertrauen auf diese „unsichtbare Hand“ wurde auch hohe Politik betrieben. Der heute mit dieser Formel propagierte Aberglaube war Adam Smith, auf den man sich als Entdecker dieses Quasidogmas dabei berief, völlig fremd. So konnte Hörisch schon im ersten Satz resümieren: „Die klassische und neoklassische Volkswirtschaftslehre verhält sich zu exakten Wissenschaften wie die Alchemie zur Chemie, die Astrologie zur Astronomie und die Pataphysik zur Physik.“ Der Autor hatte jedoch selbst von vornherein damit gerechnet, dass seine Argumente von Vertretern des Faches nicht zur Kenntnis genommen würden. Der Grund ist nicht, daß es seinen Argumenten an Vernünftigkeit oder Plausibilität fehlte, sondern allein, weil sie von einem Außenseiter kommen.

In den beiden anderen zuvor genannten Beispielen sieht es anders aus, insofern diese nach ihrem Selbstverständnis nicht beliebigen Interessen dienen sondern ausschließlichlich dem Maßstab unterliegen, wahre Einsichten zu gewinnen. Insofern bieten sich diese für unseren Vergleich mit der Religion bestens an. Jedoch besteht ein grundlegender Unterschied. Außerhalb der Religion ist offensichtlich, daß Wissenschaften im Ablauf der Zeit ständigen Veränderungen bestenfalls auch Verbesserungen unterliegen. Religionen erheben hingegen in entscheidenden Fragen den Anspruch, unvergängliche Wahrheiten zu vertreten. Auf diesen Punkt ist noch später einzugehen. Zunächst geht es mir um mögliche Vergleichbarkeiten.

Besonders  liegt ein Vergleich mit der Physik nahe. Immer wieder wurden dort Entdeckungen gemacht, die herkömmliche Meinungen, an die zuvor allgemein „geglaubt“ wurde, auf den Kopf stellten. Das zeigen die bewegte Geschichte des Verständnisses von Raum, Zeit und Materie, nicht zuletzt auch die Konsequenzen der Quantenphysik. Solche Beispiele sind vor allem deshalb besonders aufschlussreich, weil die später als „überholt“ eingestuften Einsichten oder Verfahren in der Alltagswelt, für die Praxis, vielfach weiterhin zu gebrauchen sind. Mir scheint, das ist ein treffliches Exempel für unsere eigene Frage.

Man könnte schließlich sogar eine gewisse Parallele sehen im Vergleich von Religion einerseits und der Geometrie des Euklid im Gegensatz zu nichteuklidischen Geometrien andererseits. Bekanntlich gab es für Euklids „Elemente“  jahrhundertelang keine Konkurrenz. Seine Geometrie war unangefochten das Maß der Dinge. Schließlich benötigte jedoch die fortgeschrittene Physik, zumal die Allgemeine Relativitätstheorie eine andere Geometrie. Inzwischen wird die Lehre des Euklid nur noch soweit als gültig angesehen, als sie nicht auf reale Gegenstände oder in idealen Figuren auf Linien über oder unter dem Krümmungsgrad 0 bezogen wird. Dennoch gehören die Axiome des Euklid bis zum heutigen Tag zum Lehrplan der Schulen und zum allgemeinen Handwerkszeug. Wenn die Prinzipien der Alltagsgeometrie aber nur im kleineren Bereich gelten, so erinnert das vielleicht in einem äußerst mutigen Vergleich auch daran, daß im kurzen Leben eines menschlichen Individuums nicht alle Begrenztheit und Vollkommenheit der Schöpfung erfahrbar und damit verstehbar ist, so daß von vornherein eine Theodizee kaum gelingen kann. Vielleicht wird ein Bibelkundiger auch an 1 Joh 3,20 erinnert: Gott ist größer.

In diesem Sinne erwähne ich noch einmal ein Beispiel aus der Theologie. Nach kirchlichem Verständnis führt die Beziehung zwischen Gott und Schöpfung dazu, daß wachsendes religiöses Verstehen des Menschen zu einer zunehmenden Entfernung des Verständnisses von Gott führt. Dennoch bleibt die Religion und damit die Verehrung Gottes sinnvoll. Ich denke an das 4. Laterankonzil 1215, das feststellt: « … von Schöpfer und Geschöpf kann keine Ähnlichkeit ausgesagt werden, ohne daß sie eine größere Unähn­lichkeit zwischen beiden einschlösse.» (Inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda).

Zweifellos können auch säkulare Wissenschaften nicht damit rechnen, einmal die erschöpfende und endgültige Wahrheit zu finden. Aber für das gemeinsame Glaubensbekenntnis einer Kirche ist, solange die Welt besteht, eine endgültige Gewißheit ebenso völlig ausgeschlossen. Eine derartige Erwartung  gibt es bestenfalls als Hoffnung im persönlichen Glauben je einzelner Menschen, dieser Glaube endet jedoch allemal mit dem Tod.

In der Beziehung ist vermutlich eine gewisse Zurückhaltung angebracht, die ich bereits 2014 in meinem Text A so formuliert hatte: “Zeigt sich vielleicht auf diese Weise (gemeint ist die ausbleibende Korrektur theologischer Irrtümer durch Papst Franziskus), dass man doktrinäre Fragen vergleichgültigen kann, sobald die Kirche in ihrer Praxis mehr Menschenfreundlichkeit übt? Ist ihre Sache vielleicht mehr der Einsatz in Sachen Lebenshilfe, bzw. sollte es sein, mehr als metaphysische Probleme zu lösen oder sich ständig mit Einzelheiten der traditionellen Lehre zu beschäftigen?“ Aus aktuellem Anlass füge ich hinzu, daß der Papst sein privates Desinteresse an strittigen Themen der Dogmatik pflegen mag, aber tunlichst nicht nach dem Prinzip verfahren möge, nachts seien eh alle Katzen grau.

Mancher mag fragen: Was heißt das in diesem Zusammenhang? Gegenwärtig (2017) geht die Sorge um, der Papst könne unter Umständen die Gefolgschaft von Lefebvre, die sich heute „Priesterbruderschaft St. Pius X.“ nennt, aus lauter Gutmütigkeit kirchlich anerkennen. Sein Vorgänger, Benedikt XVI., hatte in seiner Naivität vier von Lefebvre unerlaubt geweihte Bischöfe rekonziliert. Bis heute lehnt diese „Bruderschaft“ vor allem wesentliche Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils ab. Sie verurteilt nicht nur die Messe in der Muttersprache, sie verwirft die Religionsfreiheit, toleriert den Antisemitismus und vertritt weiterhin das Dogma von 1442, daß den Seelen aller Nichtkatholiken nach dem Tod die Hölle droht.

  1. Schranken der Erkenntnis

Wenn in der geschichtlichen Entwicklung der Naturwissenschaften immer wieder als gesichert geltende Erkenntnisse von neuen überholt werden, wird zu prüfen sein, ob diese Erfahrung einen Vergleich mit der Geschichte von Religion zulässt. Denn in den Naturwissenschaften bleibt trotz allen Änderungen durchweg  die experimentelle Basis früherer Erkenntnisse erhalten. Möglicherweise gibt es ähnliche Gründe, die überlieferte religiöse Praxis beizubehalten, wenngleich deren ursprüngliche Begründung nicht mehr zu halten ist. Der erkenntnistheoretische Befund zeigt, daß neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse in der Regel nicht zu einer Annullierung früherer Erkenntnisse nötigen sondern lediglich, sie im anderen Zusammenhang neu zu interpretieren. (Ich stütze mich dabei auf die Erkenntnistheoretischen Betrachtungen von Ernst Cassirer aus dem Jahr 1920 „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“.)

Allerdings bleibt ein radikaler Unterschied, um nicht zu sagen ein totaler Gegensatz, beim Vergleich der Entwicklung in den Naturwissenschaften gegenüber der in der Religion. Im Bereich der Empirie bewegt sich die geschichtliche Entwicklung hin zu Erkenntnissen, die oft lange Zeit als unmöglich schienen, später jedoch möglich geworden sind. In der Religion stößt die Erkenntnis, abgesehen von Berichten über historische Ereignisse, auf unüberwindbare Schranken, sobald zwangsläufig transzendente Positionen dagegenstehen. Der Vergleichspunkt kann dann bestenfalls in einer gewissen Ähnlichkeit der Verfahren bestehen, wobei in beiden Bereichen unterstellt werden muß, daß eine endgültige und erschöpfende Antwort auf offene Fragen nicht möglich ist. Im Laufe der Geschichte tauchen immer wieder neue Fragen auf. Das Verfahren hingegen beruht beiderseits auf der Notwendigkeit, auf diese Fragen auch neue Antworten zu finden. Dabei sind selbstredend gelegentliche Sackgassen – in der Theologie etwa der ominöse Antimodernismus – nicht ausgeschlossen. Für den Bereich der Religion ist die Zeitbedingtheit nicht in jedem Fall nur vorübergehend, deshalb scheint es mir korrekt, von Lebenshilfe für den jeweiligen Augenblick oder die Zeit zu sprechen.

Selbstverständlich gibt es in der Theologie auch Irrtümer, deren Lebensdauer in der weiteren Geschichte meist nicht abzusehen ist. An offenen Fragen wird es weiterhin nicht fehlen, eine Perfektion ist allemal ausgeschlossen. Das Entscheidende, was nach allgemein nicht strittiger Überzeugung jedoch feststeht, und was auch in Zukunft gelten wird, bringt Thomas von Aquin zum Ausdruck, wenn er erklärt:  „Der Höhepunkt des menschlichen Wissens um Gott (ist), dass der Mensch weiß, dass er im Grunde nichts über Gott weiß, insofern er erkennt, dass das, was Gott ist, alles übertrifft, was wir von ihm verstehen.» (Quaestiones disputatae, De potentia Dei, q. 7 a. 5 ad 14). Damit ist ausgeschlossen, daß wir Menschen zeitlebens zu einer fehlerfreien Erkenntnis Gottes kommen werden. Insofern bleibt auch die sogennante Gottesfrage – also die „Frage aller Fragen“ – nach der Existenz Gottes ohne endgültige Antwort.

Damit stellt sich unsere anfängliche Frage neu, ob es „andere Gründe, die überlieferte religiöse Praxis beizubehalten“ gibt. Zwar gibt es viele Gründe, daß Religion Lebenshilfe bieten kann. Aber ehe diese These selbst diskutiert wird, muß daran erinnert werden, daß die Religion nicht zuletzt (vielmehr vor allem) ethische Impulse gibt, so daß sogar immer wieder zu Unrecht angenommen wird, Religion sei nichts anderes als eine Morallehre.

  1. Unterschiedliche Lebenshilfe

Anläßlich mit religiösen Floskeln getünchten Gewaltakten wird häufig der Gegensatz zwischen wirklicher und damit friedlicher Religiösität und religiös verbrämtem Fanatismus beteuert. Eine korrekte Antwort betont demnach, was Religion nicht ist. Eine derartige an sich hilfreiche Apologie hat jedoch nicht selten den Nachteil, daß der Gewinn gelebter Religiösität als Lebenshilfe für die Beteiligten aus dem Blick gerät. Die Endbilanz, ob die Religion in der Geschichte insgesamt mehr Segen als Unheil gestiftet hat, zumal im Vergleich mit anderen Anlässen der Gewaltausübung, muß dennoch offenbleiben. Die Rede von der Religion als Lebenshife besagt auch keineswegs, daß die erwartete Hilfe stets gelingt.

In Gesprächen ist jedoch damit zu rechnen, daß Hilfe höchst verschiedener Art erwartet wird. Mindestens braucht man Mittel zum Leben, d.h. Lebensmittel im eigentlichen Sinn. Hinzu kommt das ganze Kaleidoskop von Bedürfnissen bis hin zu der Notwendigkeit, menschliche Nähe in Freundschaft und Liebe zu finden. Speziell als Religion soll diese nicht zuletzt, wie in der oben (im Abschnitt A) zitierten  Konzilserklärung Nostra aetate betont wurde, „ein Antwortversuch auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins“ sein. Diesem Bedürfnis dienen vorzüglich die im folgenden beschriebenen Funktionen 1 und 3.

Die Beobachtung, Religion biete Lebenshilfe, entscheidet andererseits nicht darüber, wie weit eine Religion im konkreten Fall für deren Angehörige tatsächlich eine solche Hilfe leistet, leisten kann und als solche empfunden wird. Sie besagt lediglich, daß eine Religion Lebenshilfe bietet und sie von ihr auch erwartet wird. Deshalb scheint es mir sinnvoll, diesen Maßstab im folgenden generell zu verwenden ohne gleichzeitig auf die Schilderung konkreter Situationen oder in einzelnen Religionen eingehen zu müssen oder zu können.

Zuvor ist noch eine andere Klärung angebracht. Manche Christen und vermutlich auch Anhänger anderer sogenannter Offenbarungsreligionen legen Wert darauf, zu versichern, nicht alle Religionen könnten über einen Kamm geschoren werden. Religionen, deren Lehre oder Existenz auf göttlicher Offenbarung beruhten, müßten mit anderem Maß gemessen werden als andere. Für unsere gegenwärtigen Überlegungen, spielt das jedoch keine entscheidende Rolle, ohnehin hatten wir oben für unsere eigenen Überlegungen diesen Sonderfall ausgeschlossen. Wir haben es hier hingegen mit dem Einwand eines gedachten Kontrahenten zu tun. Ohne Bedeutung ist deshalb auch, wie eine solche Offenbarung im Einzelfall genauer verstanden wird. Ob man Offenbarung lediglich als Kundgabe einer Lehre versteht (wie man im Alltag oft sagt, ein Geheimnis würde offenbart), ob andererseits theologisch sogar von einer Offenbarung Gottes als Person selbst die Rede ist oder von einem einzelnen Glaubenssatz, etwa den Glauben an die Auferstehung Christi, alles das muß hier außer Betracht bleiben.

Für uns geht es im Grunde nur um eine methodische Frage, die nicht mit dem Bekenntnis zu einer einzelnen Religion oder der Absage an eine andere beantwortet werden kann. Denn jede Religion wird in unseren Überlegungen zunächst als bloß hypothetisches Gebilde behandelt ohne Berücksichtigung der sogenannten Wahrheitsfrage. Und deshalb wird gefragt, welche Bedeutung sie für ihre Anhänger und u.U. für die Gesellschaft hat.

  1. Funktionen von Religion

Mein weiteres Vorgehen beruht auf einem einfachen Kunstgriff, indem ich ein generell akzeptiertes Ergebnis aus der Religionssoziologie aufgreife. In seiner Vorlesung „Was ist Religion? (im WS 2006/7), bei der die allgemein anerkannte Unterscheidung von substantiellen (etwa der christlichen) und funktionellen Definitionen verwendet wird, erwähnt Karl Gabriel die soziologische Religionsdefinition von Franz-Xaver Kaufmann. Dieser beschreibt innerhalb der Religionsgeschichte 6 Funktionen und erklärt: „Von Religion ist dann zu sprechen, wenn ein Deutungsmuster mehrere dieser Funktionen zugleich zu erfüllen vermag.“ Folgende Funktionen zählt Kaufmann auf:

  1. Funktion der Identitätsstiftung (Problem der Affektbindung und Angstbewältigung),
  2. Funktion der Handlungsführung im Außeralltäglichen (Magie, Ritual, Moral), [vielleicht darf man hinzufügen: darin enthalten ist auch die Handlungsführung im Alltäglichen],
  3. Funktion der Kontingenzbewältigung (Verarbeitung von Unrecht, Leid, Schicksalsschlägen, Unverfügbarkeit),
  4. Funktion der Sozialintegration (Legitimation von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration),
  5. Funktion der Kosmisierung (Sinngebung der Welt, die Sinnlosigkeit und Chaos überwindet) und
  6. Funktion der Weltdistanzierung (Ermöglichung von Widerstand und Protest gegen einen als ungerecht und unmoralisch erfahrenen Gesellschaftszustand).“

Soweit die Kurzfassung der Beschreibung von Franz-Xaver Kaufmann.  Im Hintergrund steht natürlicherweise stets die Frage, was denn überhaupt Religion sei – eine Frage, auf die es bekanntlich keine einheitliche Antwort gibt.

Da Religionssoziologie lediglich von außen Funktionen und nicht Inhalte von Religion beobachtet, können wir für unsere Untersuchung die Fragestellung einfach umkehren ohne daß wir im einzelnen klären müssen, wie die umschriebenen Funktionen genauer verstanden werden. Denn soweit die genannten Gesichtspunkte helfen, Funktionen von Religionen als solche zu charakterisieren, müssen auf der anderen Seite bestehende Religionen von vornherein entsprechende Eigenschaften besitzen und erkennen lassen. Dann liefert die erwähnte Aufzählung zugleich Beispiele von Lebenshilfe, die in der einen und/oder der anderen Religion zu finden sind. Nebenbei ist zudem ersichtlich, daß die oben ausgeklammerte Frage, welche Rolle jeweils eine Offenbarung spielt, keine Bedeutung hat. Damit dürfte meine Annahme von der prinzipiell gleichen Bedeutung unterschiedlicher Religionen angesichts stets unbeantwortbarer Fragen bestätigt werden.

Wenn ein namhafter Soziologe wie Kaufmann meint, von einer Religion sprechen zu können, falls die von ihm genannten Funktionen wenigstens in dreifacher Beziehung zutreffen, wird dabei vorausgesetzt, daß aus dieser Sicht die Beschreibungen unter Umständen im Einzelfall für die eine oder andere der realexistierenden Religionen nur teilweise relevant sind. Hinzu kommt, daß inzwischen hierzulande vermutlich ohnehin auch die Zahl der Personen zunimmt, die keinerlei religiöse Kenntnis, geschweige eine völlig orthodoxe Biographie aufzuweisen haben. Der verbreitete problematische Begriff einer patch-work-Religion bezieht sich hingegen auf Zeitgenossen, die einzelne religiöse Traditionen aufgegeben haben, ohne jedoch eine rudimentäre religiöse Orientierung völlig preiszugeben. Die Betreffenden dürften auf diese Weise ihre (meist angestammte) Religion für ihr Leben vermutlich als positiv, als ein Element der Lebenshilfe empfinden. Nicht übersehen sei, daß auch manches andere, wie Kunst in verschiedensten Formen, vor allem die Musik, Lebenshilfe bieten kann.

Theologisch mag der Einwand erhoben werden, daß unsere Methode, die ausdrücklich die Gültigkeit oder Wahrheit von Religionen nur als hypothetische Annahme oder garnicht voraussetzt, unzulänglich sei. Der Einwand geht seinerseits von der Voraussetzung aus, unter allen Umständen müsse die Wahrheit einer Religion in jeder Hinsicht der oberste Maßstab für deren  Beurteilung sein. Erstaunlicherweise findet aber gerade seit langem eine Betrachtungsweise des Christentums in der Theologie besondere Zustimmung, die von Dietrich Bonhoeffer mit der Formel ausgedrückt wird, die Welt müsse betrachet werden „etsi Deus non daretur“. Es erstaunt nicht, daß man streitet, wie diese Formel genauer zu verstehen sei, wie auch die Frage, ob damit überhaupt eine zutreffende Diagnose unserer heutigen Zeit gewonnen sei. Die Beobachtung, daß wir Christen weithin in einer areligiösen Alltagswelt zu leben haben, dürfte allerdings kaum bestreitbar sein.

  1. Viele Arten von Kindesmißbrauch

Das Stichwort Kindererziehung ist bereits oben einmal gefallen. Ein Exkurs zu diesem Thema dürfte angebracht sein. Weniger bekannt ist vermutlich, daß es in der Kirche theologische Bedenken gegen die Kindertaufe gibt, die uns hier nicht weiter beschäftigen müssen. Häufig wird die Praxis der Kindertaufe hauptsächlich von Außenstehenden jedoch verurteilt mit der Begründung, daß damit die Kinder von vornherein christlich indoktriniert würden. Ich finde dieses Argument völlig abwegig und häufig auch unredlich. Wenn derartig argumentiert wird, verschließt man die Augen davor, daß unvermeidlich Eltern durch die Erziehung und das häusliche Milieu für die weitere Lebensorientierung ihrer Kinder wichtige Weichen stellen. Wenn eine Erziehung unterbleibt oder gar aus politischen oder privaten Gründen nicht möglich ist: desto schlimmer! Im übrigen ist tagtäglich zu erleben, wie schnell Heranwachsende gerade ihre religiöse Sozialisation abschütteln können.

Ein nicht seltener Sonderfall tritt in diesem Zusammenhang auf, wo Eltern ohne weiter nachzudenken die Kindheit ihres Nachwuchses und häufig auch dessen weiteres Leben nach dem Muster ihrer eigenen Vorlieben oder Hobbys vorprogrammieren. Oft wird dadurch bewirkt, was Martin Luther zum 1. Gebot vom Glauben erklärt: Worauf du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott. Im genannten Fall dreht sich für die Kinder alles um die Freizeit-Interessen ihrer Eltern, denn einen anderen Lebensinhalt haben sie kaum kennengelernt. Alles andere war weniger von Belang. Einmal sind es Geldbesitz und dessen Erwerb – es sei denn aus Mangel -, das andere Mal der Fußball oder beides. Ich erspare mir, weitere Beispiele zu nennen. Nach meiner Auffassung ist auch das ein Fall von Kindesmißbrauch.

  1. Natürliche Religion?

Außertheologisch, gewissermaßen religionsphilosophisch stellt sich schließlich die Frage, wie sich die verschiedenen Religionen zueinander verhalten. Eine vergleichbare Untersuchung hat bereits Hans Küng anläßlich seines Projektes „Weltethos“ unternommen. Ob nur Religionen oder auch andere, religiös abstinente humane Initiativen von der Sache her zu einem Weltethos beitragen können, was von seiten des „Kritischen Rationalismus“ geltend gemacht wird, spielt für unsere Überlegungen keine Rolle. Mir scheint jedoch, ein vergleichbares Unternehmen liegt bereits im Konzept einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von Immanuel Kant vor. Da ich kein Fachphilosoph bin, erlaube ich mir, ohne großen wissenschaftlichen Apparat und womöglich auch etwas oberflächlich den Meister nach meinem schlichten Sinn in Anspruch zu nehmen. Zusammenfassend stellt er fest: „Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.“ (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kant-W Bd. 8, S. 768) Wer wollte leugnen, wie sehr damit die Sicht wenigstens unzähliger Christen heute gleich welcher Konfession beschrieben wird? Vor allem in der früheren DDR gibt es Versuche, daran anzuknüpfen.

Zu erwägen ist, ob man auf das im Kontext der Aufklärung vertretene Modell einer Art „natürlicher Religion“ analog zurückgreifen könne, wobei ein diffuser Gottesglaube vertreten werde und gleichzeitig die Frage nach der Gültigkeit und Relevanz konkreter konfessioneller Lehren offen gelassen würde. Das muss nicht heißen, solche Traditionen abzuwerten. Es liegt näher, diese beiseite zu lassen, wenn man ihrer nicht sicher genug ist. Zu hoffen ist jedoch, daß die Beteiligten in jedem Fall eine Art von Lebenshilfe erfahren.