Selbstverständlich sind folgende Erwägungen für ein fiktives 22. “Ökumenisches Konzil” aus heutiger Sicht bloße Projektionen. Unter der Frage „Was sind wir der Welt schuldig?“ hatte sich die „Arbeitsgemeinschaft von Priester- und Solidaritätsgruppen“ (AGP) jedoch schon 2005 bei ihrer Jahrestagung mit diesem Thema befaßt.

Schon der Gedanke an ein zukünftiges Konzil führte den Verfasser zu folgenden Fragen und Erwartungen, die ohne jeglichen systematischen Anspruch genannt seien. Oft scheint die Verwendung lateinischer Fachausdrücke ratsam. Die mit Stern* gekennzeichneten Formulierungen sind mit Angabe des betreffenden Abschnittes am Schluß übersetzt.

  • Die ständige Frage nach Gott

    In ihrer eigenen Lehre und Verkündigung sowie nach außen muß die Kirche stets zu erkennen geben, daß sie nicht im Unterschied zu anderen Religionen über eine exklusive, gar über eine alles menschliche Erkenntnisvermögen prinzipiell überschreitende Gotteserkenntnis verfügt. Eine von der Vernunft versuchte Antwort auf die Frage nach Gott, die oftmals nur indirekt gestellt wird, darf deshalb nicht opportunistisch lautstark von einem Glaubensbekenntnis übertönt werden.
  • Option für die Armen

    Ohne jeden Zweifel beinhaltet unser Glaube einen unaufgebbaren Impuls zur Solidarität unter den Menschen und gegenüber anderen Geschöpfen. Die Realitäten belehren uns, daß in der Regel diese Solidarität unzulänglich beachtet, zum Schaden der Armen und anderer Benachteiligter, verletzt wird. Deshalb muß dem entgegengewirkt werden. In diesem Sinne ist die bevorzugte Option für die Armen seit einiger Zeit mit Recht zur Kurzformel mitmenschlicher Verantwortung geworden, die Christen aufgetragen ist und für die wir in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens kämpfen müssen.

  • Eine katholische Kirche

    Gegenüber sich selbst und der ihr anvertrauten Überlieferung, sowie in ihrer Mitverantwortung für die Welt muß sich die Kirche als wirklich katholisch bewähren. Daß diese Eigenschaft eine Konfession für sich allein reklamiert, dafür gibt es keinen triftigen Grund. Vielmehr kann dieses Wort eigentlich nur im Sinne von ökumenisch verstanden werden, wie es in der alten Kirche selbstverständlich war. Wenn die christliche Kirche in einer Gemeinschaft von (Teil‑)Kir­­­­chen nicht ihre konfessionellen Gegensätze zu überwinden und kulturelle Unterschiede zu integrieren vermag, d.h. zur sog. “versöhnten Verschiedenheit” findet, verliert sie an Glaubwürdigkeit.
  • propter homines*

    Diese Formulierung des Glaubensbekenntnisses deckt sich praktisch mit der Antwort im Evangelium auf die Frage, wozu der Sabbat da sei. Damit wird die Geschichtlichkeit des Christentums, der Kirche zumal (das Credo wiederholt noch: et propter nostram salutem*), zur Existenzgrundlage erklärt. Für den kirchlichen Alltag ergibt sich daraus nicht zuletzt das Prinzip “ecclesia semper reformanda*”, eine notwendige Offenheit für neue Aufgaben der Gegenwart und die Bedürfnisse der Menschen. Verpflichtet auf das, was von Anfang an gegolten hat, muß die Kirche zugleich eine konservative Grundhaltung zeigen gegenüber späteren, bisher bewährten Traditionen. Damit ist selbstverständlich alles andere als Petrifzierung des mehr oder weniger zufällig Gewordenen gemeint, noch eine kurzsichtige Perpetuierung herrschender Trends.

Die vier Postulate beinhalten eine Fülle konkreterer Reformvorschläge, von denen einige in mehr oder weniger logischer Reihenfolge benannt werden sollen:

 

Zu 1: Die ständige Frage nach Gott

  1. Im bürgerlichen Leben sind alle Menschen gleichberechtigt. Die offizielle Kirche und viele Katholiken fühlen sich zwar im Unterschied zu Andersgläubigen und Agnostikern im besonderen Besitz der Wahrheit. Mit dieser Einstellung halten sie aber meist hintan. Deshalb führen sie sich in der Regel, selbst bei Gesprächen über religiöse Themen, zum Glück nicht als Besserwisser auf. Sie suchen hingegen bei ihren Partnern den fatalen Eindruck zu vermeiden, als würden diese nicht als ebenbürtig betrachtet. Vielleicht ahnen diese Christen auch im stillen, daß wir als Gläubige in philosophischen Fragen und damit gegenüber Andersdenkenden kein Erkenntnisprivileg besitzen, auf das wir uns berufen können.

Denn die biblische Offenbarung rechtfertigt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit über den Bereich der Glaubenden hinaus und begründet keine Verbindlichkeit für alle und jeden. Vielmehr müssen wir offenlassen, auf welchem Wege und an welchen Orten sich der unbegreifliche Gott finden läßt. Das schließt die persönliche Überzeugung nicht aus, daß wir in unserem christlichen Glauben, der auf dem Zeugnis der Bibel beruht, dem unausschöpfbaren Geheimnis Gottes besonders nahe sind. Aus diesem Vorzug ergibt sich, daß wir als Christen und Kirche gegenüber anderen und der Welt im ganzen eine Bringschuld haben.

  1. Daß ein kommendes Konzil mit doktrinären Ambitionen völlig abwegig wäre, bedarf keiner eigenen Begründung. Ob bei einer solchen Gelegenheit die Problematik der eigenen Glaubensüberzeugung öffentlich vertreten werden soll, kann wohl im Blick auf unerwünschte Mißverständnisse erst in der gegebenen Situation entschieden werden. Diese untergeordnete Frage kann vorerst offenbleiben. Jedenfalls sind wir der Welt schuldig, in Bezug auf die Grundlage und Legitimation unserer Sendung keine ungedeckten Schecks in Umlauf zu bringen. Denkbar ist, daß eine demütige Einsicht in die Begrenzheit unserer Glaubenserkenntnis nur im Hintergrund von Konzilsbeschlüssen eine Rolle spielt, so daß man mehr oder weniger stillschweigend sich danach richtet, ihr jedenfalls nicht zuwiderhandelt. Alles andere wäre unredlich und Ausdruck von Kleingläubigkeit.
  2. Aus dieser Einsicht ergeben sich jedenfalls Konsequenzen auch für interreligiöse Gespräche. Sie setzen bei keinem Teilnehmer den Verzicht auf die eigene Überzeugung voraus, Wahrheit gefunden zu haben. Deshalb wird dem Partner nicht abgesprochen, u.U. selber dieselbe Auffasssung zu haben, wie man sie für sich selbst auch nicht in Frage stellen möchte. Wenn von Gott gesprochen wird, meinen wahrscheinlich alle dasselbe letzte Geheimnis des Lebens und der Welt. Das schließt nicht aus, daß die eigenen Vorstellungen davon mit denen anderer nicht völlig vereinbar sind. Wir Christen vertreten in dieser Sache ein häufig zu selbstbewußtes Bekenntnis. Das haben andere oft leidvoll zu spüren bekommen, selbst Christen nicht selten teuer bezahlen müssen. Dennoch gibt es sicher viele gemeinsame Ziele auf dem Weg zu einem menschenwürdigen Leben für alle, wie sie etwa im Projekt Weltethos (Küng) angesprochen werden.
  3. Nichtgläubige, die oftmals zu Unrecht pauschal als Atheisten bezeichnet werden, verhielten sich inkorrekt, wenn sie vorgäben, sicher zu sein, daß es “keinen Gott” gibt oder man ihn jedenfalls nicht zu beachten hätte. Dafür gibt es ebenso wenig strikte Beweise wie für das Gegenteil. Seit eh und je war die Gottesfrage der Kristallisationspunkt aller unlösbaren Rätsel des irdischen Daseins, für die grundlegenden Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Woher und Wohin und nach den Maßstäben für ein gelingendes Leben. Nach Kant ist Gott (zunächst nur) als Idee und als Postulat der praktischen Vernunft unentbehrlich. Daran können wir anknüpfen.
  4. Aus gutem Grund wird seit Jahren die “Analogie-Definition” des 4. Laterankonzils (1215) als Grundstein jeder Theologie verstanden: Inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda*. (DH 806) Daraus folgt nicht nur, daß jede Glaubensaussage gewissermaßen als ihren Schatten einen bestimmten Anteil dessen mit sich führt, was von Gott nicht erkannt und erkennbar ist. Genauer folgt daraus, gleich ob von den Autoren unmittelbar bewußt beabsichtigt oder mehr intuitiv getroffen, daß eine vermeintlich wachsende Gotteserkenntnis auf Grund von Ähnlichkeit (eine andere gibt es ohnehin nicht) eo ipso* Gottes Verborgenheit für den Menschen steigert. Deshalb gibt es auch für den Glaubenden keinen Grund, die Unbegreiflichkeit Gottes zu leugnen.
  5. Auch innerhalb der Kirche bleibt die Frage nach Gott immer eine nie definitiv beantwortbare Frage (Ex 33,20; Augustinus: si comprehendis non est Deus*). Das Suchen nach Gott, seinem Wirken und seiner Botschaft für heute, bleibt auch dem Glaubenden nicht erspart, müßte aber deutlich Verkündigung und kirchliche Praxis prägen. Die arrogante Meinung, als Theologen eine selbstverständliche Einsicht in das Wesen der Dinge zu besitzen, muß verschwinden. Daß damit ein kirchlicher Triumphalismus und jeglicher Fundamentalismus verabschiedet sind, liegt auf der Hand. Nicht zuletzt die offizielle Liturgie müßte revidiert werden.
  6. Daß hinter der für uns erfahrbaren Wirklichkeit eine größere Macht steht, nämlich Gott, diese Auffassung gab es seit Menschengedenken. Sie hat sich immer wieder in persönlichen und kollektiven Krisen bewährt und insofern bewahrheitet. Vor diesem Hintergrund haben sich in der Geschichte Israels religiöse Erfahrungen zu der Überzeugung verdichtet, besonders berufenen Menschen sei der Wille Gottes erkennbar geworden und auf diese Weise habe Gott sich selber geoffe­n­bart. Demnach ist er in der Geschichte von Menschen präsent und will als solcher wahrgenommen werden. Als Christen glauben wir, daß diese Offenbarung endgültig in Jesus von Nazareth geschehen ist.

Ein solcher Glaube ergibt sich nicht aus des Menschen natürlicher Einsicht. Deshalb sprechen wir von Offenbarung, deren Ausdruck unser Glaubensbekenntnis ist. In Fragen konkreter Weltorientierung und Lebensgestaltung wollen und können wir zwar auch als Gläubige auf wissenschaftliche Einsicht nicht verzichten. Der Glaube jedoch ist auf diesem Wege weder zu beweisen, zu widerlegen, noch zu ersetzen. Deshalb tun wir gut daran, im Vertrauen auf Gott an unserem Glauben konsequent festzuhalten und ihn mutig zu vertreten. Bei heutigen Krisen sind wir in einer Welt der scheinbaren Allmacht des Geldes dazu besonders herausgefordert, da er ein Hort der Menschlichkeit und Solidarität ist und sein kann.

  1. Eine bittere Erfahrung unserer Zeit prägt unser Verständnis von Gott neu, läßt uns den Glauben tiefer verstehen und darf niemals vergessen werden. Denn nie wieder darf in der Kirche gesprochen werden, als ob es den Abgrund Auschwitz nicht gegeben hätte. Gott schien das von ihm erwählte jüdische Volk verstoßen zu haben. Wie sollten Christen von ihm Besseres erwarten? Für alle Zeiten wird uns Menschen das unfaßbare Erlebnis begleiten, von Gott zu sprechen, heißt, sich einer coincidentia oppositorum* auszusetzen. Er wurde immer wieder anders erfahren, als Gläubige von ihm mit Vertrauen und Zuversicht meinen bekennen zu können.
  2. Zu jeder Zeit suchen Menschen auf ihre Weise und nach ihren Möglicheiten einen Zugang zu dem Geheimnis, das wir Gott nennen. Gegenwärtig verdienen Überlegungen Beachtung, die auf eine Konvergenz zwischen der bloßen Vernunft und dem Glauben hinweisen, ohne den “garstig breiten Graben” dazwischen überbrücken zu können. Es scheint nämlich, daß menschliches Bewußtsein, welches uns erlaubt, in den Bereich alles Denkbaren vorzudringen und damit eigene Grenzen zu überschreiten (capax universi*), eben deshalb geradezu auf Erfüllung der damit geweckten Sehnsucht wartet. Folglich besitzt dieses Bewußtsein eine gewisse Affinität zu dem Verständnis von Gott, das die Überlieferung des christlichen Glaubens bietet: Gott habe sich nicht nur deutlicher zu erkennen gegeben, sondern sich selbst seinen Geschöpfen auf unberechenbar eigene Weise mitgeteilt.

Zu 2: Option für die Armen

  1. Dankenswerterweise wird von kirchlicher Seite häufiger betont, daß keine politische Ordnung zu billigen sei, die sich nicht der Solidarität verpflichtet. Ob die Sprecher der Kirche, die sich auch öffentlich vernehmbar machen, auf Grund ihrer eigenen Sozialisation dazu in der Lage sind, dieses Kriterium glaubhaft und konsequent zu vertreten, sei dahingestellt. Ohne Zweifel darf es aber keine Hemmungen geben, auch eigene Vorurteile und Denkgewohnheiten zu korrigieren, Berührungsängste gegenüber

Menschen anderen Herkommens um der Sache willen zu überwinden und schließlich das herrschende Wirtschaftssystem zu hinterfragen. Denn dem Anschein nach haben sich deren Akteure mit millionenfachem Elend in der Welt abgefunden, vielfach es sogar unleugbar begünstigt.

  1. Keinesfalls darf die Kirche der Irrlehre erliegen (die oft hartnäckiger als ein religiöses Dogma vertreten wird), als würde eine “unsichtbare Hand” schon dafür sorgen (die gelegentlich sogar als Wirken einer göttlichen Vorsehung ausgegeben wird), das allgemeine Wohl herzustellen, wenn nur jeder ungehemmt seinem eigenen Vorteil nachjagen könne. Vollends erweist sich dieses Vorurteil als katastrophal, wenn es (anders als Adam Smith, von dem die Formulierung stammt, gedacht hat) auf die Wirtschaft der ganzen Welt bezogen wird. Das bedeutet, daß Profitstreben und andere partikuläre Interessen kein oberster Maßstab in einer “globalisierten” Welt sein dürfen.
  2. Da die herrschenden Wirtschaftsstrukturen solche der Geldwirtschaft sind, zugleich der bloße Geldbesitz im Zins- und Zinseszinssystem per se* (zwangsläufig anderswo erarbeitetes) horrendes Vermögen wachsen läßt, muß nach besseren Lösungen geforscht werden. Deshalb ist zu prüfen, welche Möglichkeiten bestehen, wirtschaftlichen Gewinn auf die Leistungen zu beschränken, die unmittelbar oder mittelbar der Herstellung von Gütern dienen. Eine Kirche, die heutzutage das biblische und bis in die Neuzeit vertretene strenge Zinsverbot völlig verschweigt, verletzt ihre eigene Identität. Denn die moderne Kreditpraxis unterscheidet sich nicht völlig von dem, was früher ständig verurteilt wurde. Wer behauptet, damals sei nur der heute ohnehin strafbare Wucher im Blick gewesen, verkennt den prinzipiellen Charakter des Zinsverbotes oder versucht, andere zu täuschen. Es spricht somit viel dafür, daß die Kirche um der Menschenwürde willen, auch den Mut besitzen muß, (Seite an Seite mit anderen Gruppen der Gesellschaft) dem herrschenden scheinbar alternativlosen Kapitalismus Widerstand zu leisten.
  3. Die Nagelprobe einer gerechten Wirtschaftsordnung ist stets die Frage, wie sie sich für die Schwächeren in der Gesellschaft auswirkt. Als Anwalt dieser Frage könnte Kirche in besonderem Maße dem Ziel “Option für die Armen” entsprechen. Daß die kirchlichen Hilfswerke und der selbstlose Einsatz vieler Christen bereits dieser Option dienen, braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden.
  4. Ein Problem besonders für das Schicksal der Armen ist die Frage des Krieges, zu der das II.Vatikanum keine klare Position zu beziehen in der Lage war. Die traditionelle Lehre vom “gerechten Krieg” litt nicht nur darunter, daß selbst deren unbestreitbaren Grundforderungen in der Regel auch von den Politikern christlichen Glaubens mißachtet wurden. Diese Lehre kannte die heutigen Massenvernichtungsmittel überhaupt noch nicht. Vor allem hatte sie zuwenig das Schicksal der Opfer aus dem breiten Volk – nicht zuletzt der Armen – im Blick. Sie sah die Frage vorwiegend aus der Sicht der staatsführenden Kontrahenten. Insofern wäre dieses Thema primär eines internationaler Beziehungen, damit eine Herausforderung an eine “katholische” Kirche (und gehörte zum folgenden Schwerpunkt). In zunehmendem Maße ist vor allem aber die Zivilbevölkerung das wehrlose Opfer. Hinzu kommt, daß vielfach nicht nur Regierungen Krieg führen, sondern auch Privat-Armeen, vor allem in sog. Bürgerkriegen. Von rechtlich geregelten eigentlich polizeilichen Maßnahmen abgesehen, muß deshalb die Gewaltanwendung konsequent verurteilt werden.
  5. Die “Bewahrung der Schöpfung” ist seit langem ein Ziel des ökumenischen “konziliaren Prozesses”. Opfer der durch rücksichtsloses Gewinnstreben und verbreitete Gleichgültigkeit fortschreitenden Belastung und Zerstörung der Natur, etwa des Weltklimas, sind vor allem die Armen in unzähligen Ländern. Deshalb muß die Ökologie auch Aufgabe gesellschaftlicher Diakonie werden.

Zu 3: Eine katholische Kirche

  1. Wir Christen sollten ein Modell für die Versöhnung in der Welt abgeben. Das letzte Konzil hatte konstatiert, die Kirche sei dafür gleichsam Zeichen und Werkzeug (LG 1). Hier liegt erheblicher Nachholbedarf vor. Noch gibt sie oft genug ein Gegenbeispiel, bietet ständig ein Vorbild der Gespaltenheit.
  2. Eine Voraussetzung für wirkliche Katholizität der römischen Kirche ist die Überwindung des Zentralismus. Gegenwärtig zeigen sich oft groteske Züge, wenn Vorgänge von der päpstlichen Verwaltung reglementiert werden, die am Ort oder auf anderer Ebene besser behandelt würden. Deshalb ist die Wiederbelebung einer Patriarchatsstruktur in zeitgemäßer Form, etwa durch die Aufwertung der Bischofskonferenzen, zu prüfen. Nur durch unterschiedliche regionale oder konfessionelle Verbindlichkeiten kann die Spannung zwischen allgemein geltenden Lehraussagen und

Verfahrensregeln im Unterschied zu solchen begrenzter Gültigkeit überbrückt werden.

  1. Eine bischöfliche Verfasssung der Kirche muß nicht zwangsläufig zu einem hierarchischen Machtanspruch oder Gehabe ihrer Amtsträger führen, wie es oft zu erleben ist. Die Bischofswahl selbst und viele Entscheidungen, die der Alltag erfordert, können viel sachgemäßer im Rahmen einer synodalen Struktur, die nicht nur Kleriker zum Zuge kommen läßt, herbeigeführt werden. Dabei müssen demokratische Verfahrensregeln praktiziert und demokratische Grundsätze eingehalten werden, was die Vorbereitung und Transparenz des Vorgehens angeht. Das Ammenmärchen, grundsätzlich sei Demokratie in der Kirche ausgeschlossen, muß fallengelassen werden. Hat die Kirche in ihrer Geschichte nicht Feudalismus und andere Unarten brav imitiert, ohne sich durch ihre sogenannte göttliche Stiftung hindern zu lassen?
  2. Vor allem in außereuropäischen Ländern tut es Not, die Entwicklung einer von der Kultur und Mentalität des Landes geprägten Kirchlichkeit zu fördern. Daß weltweit bisher auch die aus dem Land stammende Hierarchie oft durch ihre römische Ausbildung in der Denkweise stark uniformiert wurde, kostet seinen Preis. Diese kirchlich avancierten Herren spüren häufig nicht mehr, wie ein neo-kolonialistisch von außen importierter Stil beim Kirchenvolk als befremdlich und störend wirkt. Ihre Insensibilität verleitet die Prälaten dauernd zu dem Trugschluß, als brauchten die von ihnen regierten Ortskirchen weniger dringend ihr eigenes Gesicht.
  3. Die Kirche steht in Europa und möglicherweise in vergleichbaren Wohlstandsgesellschaften vor einem scheinbar widersprüchlichen Phänomen. Einerseits gibt es eine weithin herrschende und oft beklagte Säkularisierung der Gesellschaft. Deren Deutung ist umstritten. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um einen mit diesem Schlagwort einseitig beschriebenen Sachverhalt der Differenzierung, durch die viele Kulturgebiete und Gesellschaftsbereiche kirchlicher Prägung und anderen traditionellen Bindungen entwachsen sind. Ebenso zeigt sich mit nicht selten fragwürdigen Zügen die scheinbar exakt entgegengesetzte Tendenz, daß profane Lebensbereiche eine religiöse oder pseudoreligiöse Prägung annehmen. Diese zeigt jedoch eine stark vagabundierende Religiösität und erweist sich, selbst wo das angestrebt wird, als kirchlich kaum integrierbar. Viel eher ist sie aber, wie ihre Verwendung in marketing und Politik erweist, für manipulative Zwecke zu mißbrauchen.

Die vorherrschenden kirchlichen Reaktionen werfen jedoch neue Probleme auf, die kritisch untersucht werden müssen. Sowohl ein strikter Gegenkurs im ersten Fall, wie auch ein Anpassungsversuch im zweiten stehen mit der hier geforderten Katholizität im Widerspruch und verschärfen eher die Schwierigkeiten.

  1. Häufig wird eine Konzentration auf das sogenannte Eigentliche als Gegenmittel zu Säkularisierungstenzen empfohlen. Da diese jedoch in der Regel von Regression bestimmt ist, drückt sie eher Kleingläubigkeit aus. Für eine solide begründete Lösung müßte zuvor geprüft werden, wie weit diese Säkularisierung überhaupt zu einem Verlust an Gläubigkeit führt. Möglicherweise besteht das Phänomen primär aus einem Schrumpfen der Verkirchlichung, welche ihrerseits das Christentum der letzten Jahrhunderte in Europa und anderswo gekennzeichnet hatte. Im Zuge der Globalisierung wird sich auf die Dauer auch diese “Säkularisierung” weltweit auswirken. Die Bedenken, daß die Kirche auf diesem Wege Merkmale einer “Sekte” annehmen könne, weil sie dann zu wenig auf die Geschäfte dieser Welt bezogen bleibe, verfangen nicht. Denn nicht ein maximalistisch sich gerierender Weltanspruch unterscheidet eine katholische Kirche von einer Sekte, wie manche glauben Max Weber verstehen zu sollen, sondern ihre Einstellung zum Fundamentalismus. Fundamentalistischen Tendenzen, schon der latenten Neigung dazu entgegenzuwirken, ist eine unverzichtbare Verpflichtung auch für die kirchliche Erziehungsarbeit. Um eine zukunftsträchtige Alternative zu finden, dürfte vor allem eine Weiterführung, der nach dem II. Vatikanum abgebrochenen Reformen naheliegen, die eine Öffnung der Kirche zur Welt zum Ziel hatten.
  2. Was die andererseits ebenfalls erwähnte diffuse Neoreligiösität angeht, dürfte das Werben für eine neue Glaubwürdigkeit des genuin christlichen Eigenprofils angezeigt sein statt der Imitation dieser Modeerscheinung. Die Antwort kann nur ein konsequenter und mutiger Verzicht auf alle faulen Kompromisse mit den herrschenden Tendenzen sein, insofern sie Vehikel oft untereinander konkurrierender Machtinteressen sind, häufig mit ökonomistischem Hintergrund. Die Kirche muß sich auf ihre eigenen Ursprünge besinnen. Jesus selbst wie auch die Jesusbewegung der frühchristlichen Jahrzehnte insgesamt verstanden sich weithin in der Nachfolge der alttestamentlichen Propheten: im Kontrast, wenn nicht im Widerspruch zu den Herrschenden.

Daraus ergibt sich für die heutige Kirche zwangsläufig die Maxime, dem totalen Herrschaftsanspruch des internationalen Kapitalismus zu widerstehen. Leider hat die offizielle Kirche in der Vergangenheit zwar häufig Auswüchse des Kapitalismus bekämpft, aber ihn nie a limine* verworfen, wie sie das in Bezug auf den Kommunismus für richtig gehalten hat. Vielleicht erklärt diese Befangenheit auch, daß die Friedensbemühungen des verstorbenen Papstes sogar innerkirchlich nicht die Durchlagskraft erreicht haben, die sie verdient hätten. Deutlich fehlte ihnen eine Distanzierung von den hierzulande als Aufbau einer “Kriegskulisse” verharmlosten Machenschaften und dem damit verknüpften kapitalistischen US-Imperialismus. Einflußreiche Kreise der Kurie folgten Johannes-Paul II. in seinem Engagement spürbar nur halbherzig. Ein Beispiel für viele, wie sich die Kirche oftmals selbst im Wege steht.

  1. In Lateinamerika, wie vielleicht auch in anderen Ländern der sogenannten dritten Welt, wo bisher der Katholizismus unbestritten die vorherrschende Religion war, verschärft sich das Problem durch den rapide wachsenden Zulauf zu verschiedenen Sekten (oftmals von US-Interessen kontaminiert und mit eigenen Profitabsichten). Anscheinend hat unsere Kirche zu lange Zeit gemeint, auf die Nähe zu den einfachen Menschen verzichten zu können, die viele in den Sekten zu finden glauben. Diese verstehen jedoch häufig die Bibel fundamentalistisch. Das führt oft in diesen Gruppen zu schwärme­rischen Naherwartungsphantasienn, was sie gegenüber mancherlei Rattenfängern äußerst manipulierbar macht. Gegen diesen Trend muß die Kirche in der Ausbildung, bei der Inanspruchnahme der Bibel in offiziellen Verlautbarungen, sowie auch in der Predigt und Katechese jede fundamentalistische Vereinfachung strikt vermeiden. Vielmehr ist entschieden eine breite, zeitgemäße und vor allem auf die Ärmeren hin orientierte Bildung zu fördern.

Zu 4: propter homines

  1. Nach dem 2. Vatikanum ist weithin der Eindruck entstanden, als würde Rom den Grundsatz einer ecclesia semper reformanda* preisgeben. Fälschlich werden oft reaktionäre Bestrebungen als konservative ausgegeben. Das gilt auch für die gegenwärtige Überbetonung des kirchlichen Amtes, unübersehbar beim Papst, als einer quasi-überzeitlichen Größe. Allerdings muß in der Kirche Behutsamkeint gelten, wenn Bestehendes geprüft und unter Umständen in neuer Form weitergeführt werden soll. Konservativität dient heute jedoch vielfach bloß als Deckmantel, hinter dem sich eine Kapitulation gegenüber herrschenden Machtverhältnissen und (nicht zuletzt in der Politik) naivem Fortschrittsglauben an eine technische Allmacht verbirgt.

Nach dem Konzil fand sich die Kirche oft auf falschen Kriegsschauplätzen. Beispiele unter vielen sind: Eine historisierende Radikalkur des Heiligenkalenders und die Unterdrückung der tridentinischen Meßliturgie, statt diese von theologisch problematischen Elementen zu säubern, etwa von unhaltbaren Opfermotiven. Während Rom weitere Reformgedanken verabschiedete, sorgte diese rubrizistische Pseudoreform, um bei dem Beispiel zu bleiben, weiterhin für Ärger. Statt sich auf eine großzügige Rahmenordnung zu beschränken, die Überkommenes zuließe und zugleich eine lebendige, zeitnahe, oftmals am Ort entwickelte Liturgie ermöglichte, erlebte eine verknöcherte Rubrizistik fröhliche Urständ. Am Rande wurde so ein unnützer Streit mit den Traditionalisten provoziert. Später meinte man, sie mit weiteren faulen Kompromissen gewinnen zu müssen. (Die römischen Vorschriften etwa für die Genehmigung liturgischer Texte und sogar bloßer Übersetzungen sind schlicht grotesk.)

  1. Etliche Reformen, für welche die Zeit des letzten Konzils noch nicht reif war oder welche dieses gescheut hat, müssen konsequent realisiert werden. Zu denken ist an die Neubeurteilung sog. künstlicher Empfängnisverhütungsmittel und anderer Fragen der Sexualmoral. Vor allem steht in der lateinischen Kirche die Aufhebung herkömmlicher Einschränkungen des Zuganges zum Priestertum und damit zu Leitungsaufgaben an, nämlich die überholte Beschränkung auf unverheiratete Männer (mit Ausnahme von Konvertiten) und den völligen Ausschluß von Frauen (selbst vom Diakonat). Diese Entscheidungen sind inzwischen unausweichlich. Eine Zementierung traditioneller Positionen entgegen biblischem Zeugnis und dem der Geschichte wird keinesfalls die Entwicklung endlos aufhalten können. Will man warten, bis eines guten Tages Katastrophen dazu nötigen, panikartig solchen Reformen stattzugeben?
  2. Reformen verlangen häufig (wenigstens zunächst) regional differenzierte Lösungen. Das gilt besonders angesichts der konfessionellen Situation in Deutsch­land und vergleichbaren Ländern. Dabei ist sowohl das Hirngespinst einer homogenen Einheitskirche (etwa die “Bekehrung” anderer zur römischen Kirche) aufzugeben, wie auch ein weiterhin bloßes Nebeneinander der Konfessionen zu überwinden. Auch Zwischenschritte sind zu prüfen, etwa analog den Kirchen in der Leuenberger Konkordie von 1973. Der notwendigen Einheit ist so am besten gedient. Denn überall die Verhältnisse über einen Kamm zu scheren, führt zwangsläufig dazu, daß vermeidbare Probleme und neue Spaltungen hervorgerufen werden. Ein gelungenes Modell jedoch bot der Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin. Dort wurden ökumenische Gottesdienste gefeiert, jeweils korrekt mit Eucharistie bzw. Abendmahl in konfessioneller Tradition. Die Hierarchie hat bekanntlich darauf blindlings nach herkömmlichem Muster mit Sanktionen reagiert. So wurde nicht einmal das selbstgeschaffene Vorbild wiedererkannt, als das der Ritus der “gemeinsamen Trauung” angesehen werden kann. Diese ist nämlich ökumenisch, obwohl sie nach der offiziell verbindlichen Form aus Elementen besteht, die in den Konfessionen verschieden sind, sogar im entscheidenden Akt ungleich verstanden werden.

In der Pfingstversammlung wurden diese Thesen besonders kontrovers diskutiert. Einige Teilnehmer bedauerten, daß kein anderer Zugang, etwa einer von einem biblischen Ansatz her, gewählt worden war. Zur zweiten These gab es Einwände gegen die Forderung, dem herrschenden Kapitalismus müsse Widerstand geleistet werden, und dessen Kern sei das bestehende Zins- bzw. Geldsystem. Auch die Formulierung von der Geschichtlichkeit als “Existenzgrundlage” war umstritten. Mir ist klar, daß auf den ersten Blick die Knappheit mancher Aussage mögliche Mißverständnisse zuläßt. Deshalb ist der Verfasser auf Anfrage zu entsprechenden Klärungen bereit.

vgl. SOG-Papiere 2005/4                                           Carl-Peter Klusmann

 

  1. *für (uns) Menschen; *und um unseres Heiles willen; *die Kirche bedarf stets der Erneuerung
  2. a) *tatsächlich (im Unterschied zu: bloß theoretisch oder der Vorschrift nach)
  3. e) *Zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen,
    daß zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre. *zugleich
  4. f) *wenn du ihn begriffen hast, kann es nicht Gott gewesen sein
  5. h) *Zusammenfall der Gegensätze
  6. i) *fähig, das Ganze zu denken bzw. zu verstehen
  7. l) *von sich aus
  8. v) *völlig, von vornherein
  9. w) *die Kirche bedarf stets der Erneuerung