Auch ein theologisches Thema?

Von Enklaven abgesehen, gibt es in Deutschland seit langem keine Volkskirche mehr, die den Namen verdient. Die großen Konfessionen unseres Landes gelten zwar nach wie vor noch als Volkskirchen. Aber was damit gemeint ist, weiß keiner genau. Denn sie sind so wenig Sache „des“ Volkes wie der Volkstanz, die Volksparteien oder die Volkswagen AG. Sie teilen dieses herbe Schicksal trotz aller medial geschürten Illusionen mit den überheblichen Inszenierungen des Fußball- und anderer Sparten des Sportgewerbes. Was dennoch weiterhin mit „Volkskirche“ gemeint ist und sich manchmal „realexistierende“ Kirche nennen lassen muß, wird am wenigsten als theologisches Problem erkannt. Häufig dient der Begriff mehr oder weniger bloß als Kontrastfolie für die Beschreibung dessen, was angeblich an die Stelle der Volkskirche tritt.

Einige Beispiele: Nach Rahner wird „immer mehr aus einer Volkskirche eine Kirche der persönlich Glaubenden in der Diaspora“ (1966). Schreuder sieht eine Entwicklung der Volkskirche zur „Freiwillig­keits­kirche“ (1967). Für Klostermann gehört die Zukunft einer Gemeindekirche (1974). Die lateinamerikanische Bischofskonferenz in Puebla (1979) verwarf zum Wohlgefallen römischer Prälaten den Ausdruck „Volks­kirche“, da er den Anschein einer alternativen Kirche erwecke. Metz postulierte auf dem Ka­t­ho­likentag von unten 1980 eine „Kirche des Volkes“ an Stelle einer Kirche für das Volk und erntete dafür begeisterte Zustimmung, wie das seinen Wortschöpfungen häufig vergönnt ist. Die damit genährten Träume einer großen Zukunft der Basisgemeinden hierzulande sind jedoch inzwischen geplatzt.

Nach herrschender Meinung geht die Volkskirche auf die Dauer mangels Masse zugrunde. Dabei vermeiden die Auguren beharrlich zwei Untersuchungen: 1. Was geschieht eigentlich tatsächlich an der Basis dieses Gebildes, das bis heute hartnäckig überlebt hat und wenn nicht als Volkskirche so doch meist mit “volkskirchlichen Strukuren” umschrieben wird? 2. Welche Theologie impliziert(e) die herkömmliche Kirchenpraxis, und verliert sich mit dem Ende der Volkskirche auch deren ideologische Basis? Schließlich wäre es fatal, wenn von der sog. Volkskirche noch am ehesten dieser theologische Bodensatz überleben würde, und auf den Lehrstühlen fände man das Ganze der Beachtung nicht wert. Denn Luftschlösser zu bauen, macht eben mehr Spaß.

 

Wenn mich nicht alles täuscht, ist jüngst eine Antwort auf die genannten Fragen bekannt geworden. Ich meine die These des theologisch am­bitionierten Soziologen Michael N. Ebertz von der „Deinstitutiona­li­sie­rung der Gnadenanstalt“. Es handelt sich um das Mittelstück (S. 179-259) seines Buches „Erosion der Gna­denanstalt?“ (Knecht 1998), des­sen Darstellung ansonsten im wesentlichen der Kurzfassung im viel­diskutierten Buch desselben Ver­fassers „Kirche im Gegenwind“ (Her­der 1997) entspricht.

Ebertz beruft sich auf Max Weber und dessen soziologischen (!) Be­griff der Gnaden- oder Heilsanstalt, hauptsächlich in dessen Haupt­werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1. Auflage 1922, 5. Auflage 1972ff). Webers Beschreibung des Idealtypus Gnadenanstalt paßt verblüffend auf das Erscheinungsbild der katholischen Volkskirche. Ebertz faßt Webers Konzeption auf S. 181f knapp zusammen. An­schließend beschreibt er eine gan­ze Reihe von Phänomenen, die zeigen, daß die Gnadenanstalt, grob gesprochen, der traditionelle Monopolanspruch der Kir­che, Gottes Heil zu vermitteln, ihre Basis verliert. Dabei geht es nicht um die inzwischen allbekannte Konzession, daß man auch als Nichtkatholik selig werden könne. Ebertz weist nach, daß die offizielle Kirche selber sich inzwischen immer weniger auf die durch sie vermittelte „An­staltsgnade“ als auf die „fides implicita“ (beides Begriffe bei Weber) der Christen verläßt.

Allerdings wird erst richtig ein Schuh daraus, wenn der Begriff Heils­anstalt nicht nur als soziologischer und damit auf Empirie beschränkter Begriff verstanden wird. Mit dem vol­len „Schwerge­wicht“ einer theologischen Aussage verwendet ihn nämlich vor Weber bereits Adolf (von) Har­nack. In der 4. Auflage seines „Lehr­buches der Dog­mengeschichte“ von 1909, möglicher­weise bereits in der ersten Auflage von 1886, 36 Jahre vor Weber, spricht er von der „Kir­chenanstalt“, die etwa im Jahre 220 an die Stelle der Christenheit tritt, die den hl. Geist in ihrer Mitte hat. (1. Bd., Nach­­druck 1990, S. 439ff) Diesen Übergang von der „Heilsge­mein­schaft“ zur „Heilsanstalt“ sieht Harnack durch das Edikt des römischen Bischofs Calixt markiert. Ein solches „Edikt“, das angeblich bis dahin der Barmherzigkeit Gottes überlassene Sün­der der kirchlichen Absolutionsvoll­macht unterwarf, hat es zwar nach heutigem Forschungsstand nie gegeben. Das mit Heilsanstalt gemeinte Selbstverständnis der römischen Kirche ist davon aber nicht abhängig, und Weber hat zweifellos dasselbe Phänomen gemeint.

Rudolf Sohm, als Kontrahent von Harnack bekannt, verschärft diese The­se Harnacks sogar noch (Wesen und Ursprung des Katholizismus, 2. Aufl. 1912, Nachdruck WBG). Er folgert aus dem damals begründeten Verständnis der „allein se­ligma­chen­den“ katholischen Kirche, daß diese den Glauben vor allem als Gehorsam gegenüber dem kirchlichen Amt verstünde. Für sich sel­ber nehme sie „Macht über das Wort Gottes“ in Anspruch, behauptet Sohm, und im vol­len Sinn könne demnach eigentlich nur einer Christ sein, nämlich der Papst. Man ist versucht das Prinzip der Gnadenanstalt über Sohm hinaus auf die Spitze zu treiben: Dann enteignet die Kirche Gott und setzt sich selbst an dessen Stelle. Eine sol­che Blasphemie vor Augen zu haben, schärft zum mindesten den Blick für manche Gefahren.

Wem das als pure Absurdität vorkommt, möge bei Leo XIII. nachschla­gen, der die „vollkommene Un­ter­werfung des Willens im Gehorsam unter die Kirche und den römischen Papst wie unter Gott“ [ut Deo] fordert. (Enz. Sapientiae christianae, 1890) Am Rande sei bemerkt, wie sehr in dieser Schrift manches dem Motu proprio Ad tuendam fidem von 1998 gleicht.

Warum Ebertz neben seinem soziologischen Gewährsmann Weber die frühere Verwendung praktisch des gleichen Begriffes durch den The­ologen Harnack nicht erwähnt, weiß ich nicht. In seinem umfangreichen Literaturverzeichnis nennt er nur den 3. Band der Dogmengeschichte. Daß Weber die These von Harnack bekannt war, kann man wohl nur vermuten. Auf das Problem, daß hier ein und dasselbe Phänomen einmal theologisch, dann soziologisch interpretiert wird, kann hier nicht weiter eingegangen werden.

Jedenfalls dürfte hier ein unübersehbarer Anhaltspunkt dafür zu finden sein, was eigentlich mit dem Ende der Volkskirche zugrundegeht und zugrundegehen muß. Meines Er­achtens handelt es sich eigent­lich um Konsequenzen aus der Entscheidung des II. Vatikanum, die schlichte Iden­ti­fizierung der katholischen Kirche mit der „einzigen Kirche Christi“ preis­zugeben. (LG 8) In der Ökumene spielt das eine große Rolle, innerhalb der katholischen Kirche wird es kaum erwähnt. Damit hängt womöglich auch die Willkür zusammen, wie jeweils „Volks­kirche“ verstanden wird.

Der unbefangene Beobachter kann jedenfalls kaum den Eindruck gewinnen, die Zunft verwende sonderliche Sorgfalt darauf, die theologische Identität von Volkskirche herauszuarbeiten. Die Hilflosigkeit des oberkirchlichen Am­tes in dieser Frage bedarf dann kaum noch der Erwähnung. Deshalb wird auch der alte Sakramentalismus und Supranaturalismus noch lange nicht über Bord geworfen. Denn daß diese Erscheinungen zum alten Erbe gehören, scheint mir gewiß.

Wer, statt den alten Inhalt erst einmal auszuwickeln und ihn zu prüfen, ihn lediglich in neues Glanzpa­pier einwickelt, wird sein blaues Wunder erleben. Die Rückfrage nach der theologischen Basis der Volks­kirche kann auch erklären, wo­her bei vielen, die darin groß geworden sind, bei aller Distanz die oft irrationale Abhängigkeit von der Kirche stammt. Gleichzeitig wird klar, daß alle Wiederbelebungsversuche einer traditionellen Kirchlichkeit, hoch­trabend mit Neuevangelisierung umschrieben, ins Leere gehen müssen.

Die in der Kirche Verantwortlichen sollten ihr Gewissen erforschen, ob sie es verantworten können, in den Gemeinden die Priester und die anderen kirchlich Engagierten weiterhin zu verheizen (man entschuldige das Wort!), wenn die Reise offenbar in eine Sackgasse führt. Uns als AGP kann diese Frage auch nicht gleichgültig sein. Wurden alle Gesichtspunkte erwogen und – soweit ir­gend möglich – alle Bedenken ausgeräumt, daß der Kurs richtig ist? Es ist abwegig, weiterhin auf die prekäre Abhängigkeit, die bei manchem Kirchenangehörigen aus Kindertagen geblieben ist, zu vertrauen, wie das anscheinend seitens der römischen Obrigkeit in Überstimmung mit den katholischen Fundamentalisten geschieht. Statt dessen sollten die Oberen, wenn auch im letzten Augenblick noch, versuchen, solchen Ballast abzuwerfen. Sie soll­ten ohne faule Tricks, mit ehrlichen und plausiblen Gründen dafür werben, die Kirche nicht zu ver­las­sen, vielmehr sich an deren Reform zu beteiligen. Sie sollten auch die Al­ternativen zu bedenken geben, zB. die Religion des Kapitalismus und den Kult des Marktes. Auch unsere Fachtheologen täten gut daran, endlich das theologische Problem (!), das mit dem Ende der Volkskirche einhergeht, zur Kenntnis zu nehmen.

Vielleicht ist es providentiell, daß wir Katholiken gegenwärtig neu die „Recht­fer­tigung durch den Glauben“ zu verstehen lernen. Durch die Klarstellung der „Gott­unmittelbarkeit“ der Glaubenden wird zwar die Kirche in einem gewissen Sinne relativiert. Aber ihre höchste Berufung ist die des Johannes: Joh 3,29f. Auch für die Kirche gilt weiterhin die „Grund­wahrheit“: Wer sich selbst er­nie­drigt, wird erhöht werden. In früheren SOG-Papieren, wie auch jetzt in der IKvu-Erklärung „Für eine gerechtere Kirche und eine gerechtere Welt“ (sh. SOG-Papiere 99/2) wird sehr deutlich ausgesprochen, wie sehr die „Welt“ das gemeinsame Zeugnis der Kirchen für die von Gott uns Menschen geschenkte Gerechtigkeit nötig hat.

Oder ist alles ganz anders? Habe ich einfacher Gemeindetheologe viel­leicht das grundlegende Werk übersehen, in dem meine Fragen schon längst von namhaften Theologen auf das beste formuliert und erschöpfend, solide und mit der gebührenden Wissenschaftlichkeit beantwortet werden? Ich bitt‘ Euch nur, klärt uns auf! Mit mir wären sicher viele dankbar. Ich werde nicht säumen, für jeden Brief das Porto zu erstatten.

Meine Adresse: 44137 Dortmund, Du­den­str. 9, jetzt: 44139 Dortmund, Kreuzstr. 68, cp.klusmann@dokom.net.

Carl-Peter Klusmann            (aus SOG-Papiere 99/3)

 

Leserbrief zu  Die „Volkskirche“ geht baden  in SOG-Papiere 99/3

 

„Ich denke, daß uns das Buch von Ebertz (Erosion der Gnadenanstalt?) …von einem versinkenden Kirchenbild und seinen Forderungen im Munde der Kirchenleitung entlastet. So ist dieses Buch, auch in seiner Kurzfassung, wirklich hilfreich. Vielleicht darf ich noch an zwei Kleinigkeiten erinnern:

Die „Gnadenanstalt“ hat in ihrem Selbstbekenntnis des spätmittelalterlichen Bildes der „Hostienmühle“ eine Darstellung geboten, die die Gnadenanstalt bestens illustriert, zumal in ihrem apersonalen Selbstvollzug.

Zweitens denke ich im AT an das Exil, dies war nicht nur Verlust, sondern auch Befreiung(serfahrung) von religiöser Politik (Königtum), Tempelkult, der Gott fixiert, Ideologie des gottgeschenkten (Hl.) Landes, Ghetto-Welt des ab­­geschlossenen (auserwählten) Volkes, Verachtung der Unheilspropheten und ihrer sozialen Botschaft und andererseits Befreiung zum Glauben an den einen Gott, den Schöpfer, den, der alle Geschicke der Völker „lenkt“… Ich denke, dies Pa­ra­digma Exil mit seinem doppelten Antlitz ist auch für uns heute hilfreich.

 Prof. Dr. Friedrich Diedrich, 85072 Eichstätt

Hinweis der Redaktion:  Leserbriefe  sind uns stets willkommen,  vor allem,  wenn sie  (wie im vorliegenden Fall

Anerkennung enthalten und gleichzeitg) sachlich weiterführen. Zum Stichwort Hostienmühle wird eine Erläuterung an­ge­bracht sein:

Es handelt sich um eine Darstellung, die mit einigen Varianten eine („mystische“) Mühle zeigt, aus der als Mahlgut Hostien hervorkommen, eine Analogie zum Manna in der Wüste. Die Hostien werden von Kirchendienern weitergereicht. In den Mühlentrichter eingefüllt werden mal die vier Evangelien, mal Jesus als Kind oder als Schmerzensmann. (Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie 3,297) Scholastisch würde der ganze Vorgang als Übergang der objektiven Erlösung zu der kirchlich vermittelten subjektiven beschrieben werden können. Wenn man so will, kann man die Mühle auch als Agentur der Zuwendung des (in der Regel supranaturalistisch verstandenen) Heils sehen, als Illustration der Gnadenanstalt. Daß diese ad-ministratio (vgl.c.i.c. 1167f.) im Deutschen unisono als „Spendung“ (z.B. von Sakramenten) durch den Priester bezeichnet wird, spricht für sich. Mit deutlichem Widerwillen schildert Markus Barth die Szene, vor allem die verwendete Tech­nik, in der er einen Versuch des kirchlichen Amtes dargestellt sieht, die Gnade zu kanalisieren. (Das Mahl des Herrn, Neukirchen-Vluyn 1987)

 

(aus: SOG-Papiere 99/4)