Als ich das Buch Ijob erstmals kritisch las, fiel mir ein Mißverhältnis auf zwischen dem anfangs geschilderten Reichtum des „Rechtschaffenen“ (wie ihn die Bibel nennt) und seinem späteren Segen. Zu Beginn hatte er sieben Söhne und drei Töchter. Später hatte er ebenso viele, obwohl der Autor versichert, „der Herr mehrte den Besitz Ijobs auf das Doppelte.“ Diese Rechnung bezog sich jedoch nur auf den Besitz an Vieh, möglicherweise auch auf das „zahlreiche Gesinde“. Mein Problem bestand aus der Frage, ob später geborene Kinder überhaupt ein Ersatz oder eine Entschädigung für den früheren Verlust sein konnten.

Die gleiche Anzahl der Nachkommenschaft vorher und danach habe ich bisher in der exegetischen Literatur noch nirgendwo thematisiert gefunden. Hätte man nicht wenigstens eine Andeutung davon erwarten können, daß durch den Besitz einer gleichen oder gar größeren Zahl von Nachkommen Eltern für den vorherigen Verlust von Kindern nicht hinweggetröstet werden? Aber ob eine solche heute mehr als emotional zu bezeichnende Betrachtungsweise historisch plausibel ist, dürfte schwer zu beantworten sein. Jedoch ist mir der Anlaß d ieses biblischen Textes willkommen, darüber nachzudenken, wie weit ein Mensch überhaupt den Platz eines anderen Menschen einnehmen kann. Zu dieser Frage hat Immanuel Kant eine inzwischen als klassisch geltende Antwort gegeben:

Ohne Preis

„Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen P r e i s, oder eine W ü r d e. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über  allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. [. . . ] Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d.i. Würde.“

„[Personen] sind also nicht bloß subjektive Zwecke, deren Existenz, als Wirkung unserer Handlung, für uns einen Wert hat; sondern objektive Zwecke, d. i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist, und zwar einen solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem sie blos als Mittel zu Diensten stehen sollten. (Grundlegung der Metaphysik der Sitten BA77 und 65 66.)

Um auf unsere ursprüngliche Frage zurückzukommen: In jedem Fall handelt es sich bei den Kindern des Ijob, selbst falls es sich bei ihm nur um eine literarische Figur handelt, immerhin um zwei verschiedene Menschen bzw. Menschengruppen. Die Frage stellt sich: Was macht die Identität eines bestimmten Menschen im Gegensatz zu einem anderen Menschen aus?

Den „inneren Wert“ eines Menschen bezeichnet Kant als dessen Würde. Im Christentum wird diese vorzugsweise auf die Eigenschaft zurückgeführt, daß jeder Mensch ein Ebenbild Gottes sei, unmittelbar von ihm geschaffen. Inzwischen wird als Begründung der Menschenwürde jedes einzelnen Menschen vorzugsweise geltend gemacht, daß dieser im Unterschied zu anderen Lebewesen Vernunft besitze.

Die Anthropologie des mittelalterlichen Christentums sei dann durch eine „Neubestimmung des Menschen“ abgelöst worden, ist in der „Theologischen Realenzyklopädie“ zum Stichwort Menschenwürde zu lesen (Wolfgang Huber, TRE 22, 580ff).

Hinzugefügt wird, „daß die Würde des Menschen nun nicht mehr unmittelbar in seiner Gottebenbildlichkeit, sondern in seiner – mit dieser freilich noch lange verbunden gedachten – Vernunftbegabung verankert wird. Auf diese Weise bereitete der italienische Renaissance- Humanismus, in Aufnahme stoischer Gedanken, jene anthropologische Wende vor, welche die Würde des Menschen in seiner Vernunftnatur verankerte.“ „Die Zusammengehörigkeit von Würde und Vernunft wurde zu einem entscheidenden Thema der anthropologischen Wende, die sich im Prozeß der Aufklärung vollzog.“

Franz Josef Wetz bemerkt zunächst in diesem Sinne: „In der Neuzeit löst sich die Idee der Menschenwürde, weiter als Wesensmerkmal und Gestaltungsauftrag fortbestehend, aus der religiös-metaphysischen Einbindung heraus, um nun ihren letzten Grund in Vernunft, Moralität und Freiheit zu finden.“ Später heißt es: „Sie formuliert ein Ideal, das in der Einlösung menschenrechtlicher Versprechungen liegt.“ (Die Würde der Menschen ist antastbar: Eine Provokation, Stuttgart 1998, 49 u. 219)

Nun sind zweifellos Vernunft, Moralität und Freiheit Wesensmerkmale des Menschen. Jedoch bevor und nachdem jemand diese wahrzunehmen, zu zeigen und zu gebrauchen vermag, kann ihm deshalb das Menschsein nicht abgesprochen werden. Die erwähnten Eigenschaften machen demnach den Menschen als Person nicht aus, sie sind vielmehr dessen Äußerungen oder Erscheinungsweise. Abgesehen von den heute virulenten juridischen, medizinischen und neurowissenschaftlichen Grenzfragen, ob ein Embyro von Beginn oder von welchem Stadium der Entwicklung an dieser volles Menschenrecht und damit entsprechenden Schutz genießt, stellt sich zuvor die Frage, was den Menschen überhaupt erst zum Menschen macht.

Unabhängig von kasuistischen Fragen muß also erst nach der Würde des Menschen gefragt werden. Laut Wetz gibt es zur Zeit darauf keine zuverlässige Antwort, bei ihm liest man: „Die Würde des Menschen ist nur noch als Inbegriff der zu verwirklichenden Menschenrechte zu sehen.“

Damit bleibt die weiterführende Frage, worauf der Vernunftbesitz und Anspruch auf Menschenwürde seinerseits zu begründen ist, ohne Antwort. Damit bleiben auch die darauf gründenden staatlichen Anordnungen und Verbote ohne rechtfertigende Grundlage. Am Anfang des Grundgesetzes heißt es lapidar: „Die Würde ist unantastbar.“

Ohne auf die von Wetz erwähnte Idealvorstellung verzichten zu müssen, zeigt jedenfalls die unbestreitbare Realität, daß mit der Geburt eines jeden Kindes ein neues Wesen auftritt und mit ihm eine ganz neue Welt entsteht. Mindestens zeigt sie sich nach aller menschlichen Erfahrung in ihrer Einzigartigkeit ausschließlich diesem einmaligen Individuum. Diese Tatsache ist auch zu allen Zeiten unbestritten gewesen. Wie anders sollte die verbreitete Redeweise zu verstehen sein, daß jeder die Welt mit seinen eigenen Augen sieht? Folglich handelt es sich bei einem neugeborenen Kind nicht um ein Serienprodukt, untereinander austauschbar, wie Kant hervorhebt. Es ist im vollen Sinne ein einzigartiges Individuum. Die für eine menschliche Person typische Dialogfähigkeit und Orientierung auf ein Du dürfte schon vor der Geburt angelegt sein. Selbstverständlich ist das Gegenüber vom ersten Augenblick des Neugeborenen an die Mutter und sind das die Eltern. Jedoch stellt sich die Frage, ob dieses „Gegenüber zu Gegenüber“ erst mit der Geburt beginnt. Die Einzigartigkeit, sein dialogischer Wesenscharakter und damit die Würde des Menschen sind sicher schon vorher vorhanden. Wahrscheinlich sind sie zuvor geweckt worden durch ein anderes Subjekt als Gegenüber, von dem bisher nicht die Rede war. „Person ist ohne den interpersonalen Bezug unmöglich.“ Diese Aussage wird hier im übertragenen Sinn verwendet, obwohl der Autor selbst hinzufügt: „Das Ich muß bereits vorbewußt dasein, um sich am Du der Mutter und später in anderen Begegnungen zu entfalten“. Korrekterweise müßte ich ausführlicher zitieren, denn an sich ist damit an dieser Stelle der interpersonale Bezug unter lebenden Personen gemeint (Joh. Heinrichs, Art. Person, philosophisch: in TRE). Daß personales Leben von Anfang an nicht solipsistisch existiert, ist jedoch naheliegend. Aber eine Gewißheit dessen, womit dieser Anfang hervorgerufen wird, besitzen wir nicht.

Christen (und selbstverständlich schon Juden) glauben, daß sie in der biblischen Überlieferung eine Antwort auf die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, finden. Demnach schafft Gott auf seine Weise die Seele, das heißt den Kern der Person eines jeden Menschen, der deshalb als Gottes Abbild (und potentieller „Dialogpartner“) angesehen werden kann. Zwar handelt es sich bei dieser Auffassung „nur“ um eine Glaubenslehre. Aber eine eindeutige Zäsur in der physischen Entwicklung des Embryo und damit eine bessere Antwort, ab wann und wodurch der neue Mensch als solcher existiert, ist außerhalb der Religion nicht bekannt geworden. Meistens wird in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht einmal gestellt. Es ist schon viel gewonnen, wenn alle Völker der These zustimmen, daß jedem Menschen eine unverlierbare Würde zukommt.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß die Bibel in Gen 2,22 – von der selbstverständlich keine abstrakte Definition des Menschen zu erwarten ist – die Menschen durch Abgrenzung von ihren Mitgeschöpfen (den Tieren) beschreibt. Sie erklärt ausdrücklich, daß die gesuchte Partnerin des ersten Menschen dort nicht zu finden war. Sonst hätte der Schöpfer die vorhandenen Lebewesen bloß zu überbieten, besonders zu qualifizieren brauchen. Notwendig war hingegen ein völliger Neuanfang. Der biblische Autor (von dem wir wissen, daß sich dahinter deren mehrere und erst recht frühere Traditionen verbergen) weiß sich nicht anders zu helfen, als daß er die Neuartigkeit des Menschen nur zu beschreiben weiß, indem er sich auf die Abstammung des (und der) anderen Menschen vom vorhandenen beruft: „Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 2,23).

Es ist sehr aufschlußreich, daß auch die Wissenschaft von der Natur bis heute keine andere Antwort auf die Frage nach dem Menschen weiß, als: (erstens) jeder Mensch stammt von anderen Menschen ab. Die Bibel erwähnt in diesem Zusammenhang aber (zweitens) auch die Rolle, die Gott dabei spielt, von dessen Anrede aus ihrer Sicht entscheidend abhängt, daß das neue Lebewesen ein Mensch (von dem wir heute sagen: mit gleicher Würde) wie der erste wird. Aus dieser mythologischen Erzählung ist immerhin abzulesen, daß wir heute ohne Rückgriff auf religiöse Bilder kaum in der Lage sind, die Einzigartigkeit eines jeden Menschen zu begründen. Dieser zweite Aspekt findet heutzutage im säkularen Zusammenhang jedoch kaum einen Widerhall. Selbst wer nicht religiös-gläubig ist, könnte u.U. erwägen, hier und sonst religiöse Deutungen anders nicht zu erklärender Phänomene daraufhin zu prüfen, ob sie evtl. als diskutable Hypothesen in Konkurrenz zu anderen (profanen) betrachtet werden können.

Kaum zu leugnen ist, daß es uns Menschen im Alltagsleben oft schwer fällt, dieser Einmaligkeit Rechnung zu tragen. Vielleicht hängt das mit der Verlegenheit zusammen, daß wir die Würde des Menschen zwar beteuern, sie aber nicht wirklich begründen können. Deshalb dürfen wir die Gegenprobe nicht unterlassen, sollten vielmehr die Frage stellen, wo es uns heute besonders schwer fällt, die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen wirklich zu achten. In diesem Sinn ist schon die gegenwärtig oft zu hörende Redeweise von „Flüchtlingsströmen“ ein Alarmzeichen. Viele (auch faule) Kompromisse in der Flüchtlingspolitik zeigen, was menschliche Würde in der Not wert ist. Wenn ich mich nicht täusche, spielt jedoch schon das Militärwesen (erst recht der Militarismus) als Paradebeispiel seit eh und je eine herausragende Rolle, wo Truppen gegen Truppen und Kämpfer gegen Kämpfer gerechnet werden. Fast wie an der Börse. Selbst das Evangelium kannte diese Mathematik: Mit zehntausend Mann hat der König keine Chance gegen den, der mit zwanzigtausend anrückt und muß deshalb rechtzeitig um Frieden bitten (Lk 14,31f). Nach militärischer Logik ist beim Fußvolk jeder austauschbar. Nur die Menge zählt. Der einzelne als einzelner, seine persönlichen Empfindungen und Sorgen spielen keine Rolle, erst recht nicht bei der gegenwärtigen hochtechnisierten Kriegsführung. Mit dieser Anonymität gleicht das Schicksal des Individuums dem „Schicksal“ des Geldkapitals: „non olet“, man weiß nicht woher und wohin. Karl Marx kannte sich in dieser Zahlenwelt besonders aus. „Da dem Geld nicht anzusehn [ist], was in es verwandelt ist, verwandelt sich alles, Ware oder nicht, in Geld. Alles wird verkäuflich und kaufbar.“ (MEW 23, 145f) Er zitiert Shakespeare: „Gold! kostbar, flimmernd, rotes Gold! Soviel hievon, macht schwarz weiß, häßlich schön; schlecht gut, alt jung, feig tapfer, niedrig edel. (»Timon von Athen«)

Wolfgang Borchert hat auf seine Weise die militaristische Blickverengung kurz nach dem Krieg mit folgender Szene skizziert:

„Zwei Männer sprachen miteinander.
Na, wie ist es?                             –    Ziemlich schief.
Wieviel haben Sie noch?            –    Wenn es gut geht: viertausend.
Wieviel können Sie mir geben?  –    Höchstens achthundert.
Die gehen drauf.                         –    Also tausend.
Danke.
Die beiden Männer gingen auseinander. Sie sprachen von Menschen.
Es waren Generale. Es war Krieg.“       (Lesebuchgeschichten).

Es liegt auf der Hand, in diesen Beispielen wird mit (oft großen) Zahlen gerechnet. Der Einzelne zählt nicht. Unsere Gesellschaft kann aber auch anders: Wenn ein angesehener Mensch, etwa ein hochdekorierter Politiker, gestorben ist, wird häufig mit Trauermiene versichert, der Verstorbene sei unersetzlich, risse eine nicht zu füllende Lücke usw. Im privaten Leben könnte Ähnliches auch von vielen anderen gesagt werden, etwa vom Vater oder der Mutter, aber auch von den eigenen Kindern.

Woher kommt der Mensch?

Unsere Erwägungen zeigen: Wie das Leben eines jeden Menschen entsteht, ist nur biologisch bekannt. Aber worauf dessen Würde begründet ist, darüber besteht keine Klarheit. Ist das Kind erst geboren, d.h. „auf die Welt gekommen“, wird die Menschenwürde ihm zwar von keiner irdischen Instanz mehr abgesprochen. Woher diese Würde kommt, weiß aber niemand zu sagen. Somit wird der Mensch als Individuum mit Anspruch auf seine einzigartige Würde auf diese Weise nur unzureichend begriffen. Was ihn als Person auszeichnet, bleibt fraglich. Wie der Anspruch auf Würde zu rechtfertigen ist, bleibt unklar. Registriert wird nur, daß er die Grenze überschreitet, die ihn gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet und befähigt. Wir haben aber keine Erklärung dafür, wie dieser singuläre Anspruch zustande kommt. Woher wissen wir, daß dieser Anspruch begründet ist? Der Mensch ist vernunftbegabt und seine Würde wird beansprucht, indem sie anderen abgesprochen wird.

Deshalb scheint mir die Bezeichnung eines Wunders (d.h. das Überschreiten empirischer Möglichkeiten) bei der Geburt eines Kindes für angemessen und zwar nicht bloß im metaphorischen Sinn sondern wortwörtlich. Wir wissen zwar über die Zeugung des Menschen und die Entwicklung bis zur Geburt bestens Bescheid. Uns interessiert (manchmal) auch, was die jeweilige Person im weiteren Leben auszeichnet. Eine befriedigende Erklärung, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht und wie jedes Individuum zu seinen konstitutiven Wesenseigentümlichkeiten kommt, haben wir nicht. Erst recht ist nicht verständlich, wieso ihn Würde auszeichnet. Die religiöse Erklärung mit dem Stichwort von der gottgeschaffenen Seele ist offenbar nicht viel mehr als eine Verlegenheitsantwort. Allerdings: Vergleichbares mit irdischer Kunst, mit den Mitteln der Naturwissenschaften, zustande zu bringen, ist noch weniger je gelungen. Spekulationen, die früher zur Vorstellung eines homunculus Anlaß gaben oder die kybernetische Konstruktion eines menschlichen Klones, wenn sie je einmal gelingen sollte, führen nicht zu einem gleichrangigen Ergebnis.

Woher sollte einem Artefakt  menschliche Würde zuwachsen, das dann als Subjekt „ich“ sagen kann, zu einem Gewissen fähig ist und Verantwortung besitzt? Den Menschen als ein zur Verant-wortung fähiges Wesen zu verstehen, impliziert die Anerkennung dessen grundlegend dialogischer Veranlagung. I. Kant betont als sachliche Konsequenz die Würde des Menschen: „Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Tieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert (pretium vulgare). Selbst, daß er vor diesen den Verstand voraus hat, und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d.i. ein Preis, als einer Ware, in dem Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigern  Wert hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Wert daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird. – Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann. Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der Achtung, die er von jedem anderen Menschen fordern kann; deren er aber auch sich nicht verlustig machen muß.“ (Die Metaphysik der Sitten A 93-94)

Wenn die Einmaligkeit jedes Menschen so verstanden wird, verliert der Streit, ob er Ebenbild Gottes ist, ob er eine Seele hat und diese gar unsterblich sei, seine Schärfe. Die Einzigartigkeit einer jeden Person liegt hingegen auf der Hand. Sie braucht man nicht zu glauben, sie ist schlicht eine jedermann zugängliche Tatsachenerfahrung. Wenn je nach einem Gottesbeweis in dieser Welt gesucht worden ist, mir scheint: ein solches Wunder (!) genügt. So wie es Argumente gegen die Existenz Gottes gibt, gibt es auch Gegenargumente. Die Existenz des Menschen in seiner Einmaligkeit und seiner Würde dürfte von besonderem Gewicht sein. Vieles bleibt uns verborgen. Wie das Universum entstanden ist, wissen wir nicht. Darüber hinaus das „Wesen Gottes“ zu verstehen, falls es ihn gibt, ist uns Sterblichen erst recht nicht vergönnt. Zugleich hat die religiöse Begründung der unverlierbaren  Menschenwürde und damit, zu wissen, was den Menscben überhaupt zum Menschen macht, ihr traditionelles Deutungsmonopol verloren. Deren Tatsache ist jedoch unübersehbar und damit ein Einbruch in unsere allein von Gnaden der Naturwissenschaften begründeten empirischen Welt nicht zu bestreiten. Insofern ist er darin ein Fremdling. Denn die Überzeugung der Völker (repräsentiert durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948) und das (notabene ebenfalls „nur“ positive) deutsche und europäische Verfassungsrecht lassen trotzdem keinen Zweifel an der Würde jedes einzelnen Menschen aufkommen.

Menschenwürde und Menschenrechte

Wetz bemerkt in seinem bereits zitierten Werk „Die Würde der Menschen ist antastbar“ S. 49 zunächst zutreffend: „In der Neuzeit löst sich die Idee der Menschenwürde, weiter als Wesensmerkmal und Gestaltungsauftrag fortbestehend, aus der religiös-metaphysischen Einbindung heraus, um nun ihren letzten Grund in Vernunft, Moralität und Freiheit zu finden.“ Jedoch ist seine Folgerung in Bezug auf den „letzten Grund“ fragwürdig. Die geschichtliche Entwicklung war in der Tat von dem Bemühen bestimmt, den Begriff der Menschenwürde von religiöser Prägung zu lösen. Aber ob sie eindeutig zu folgendem Ergebnis führt, muß gefragt werden: „Das heißt, die Würde des Menschen ist nur noch als Inbegriff der zu verwirklichenden Menschenrechte zu sehen, aber nicht mehr als deren unverbrüchlicher Ableitungsgrund: Weltanschauungsneutral betrachtet, ist sie lediglich finaler Grund der Menschenrechte, jedoch nicht deren kausaler Grund. Sie formuliert ein Ideal, das in der Einlösung menschenrechtlicher Versprechungen liegt. In diesem Sinne konkretisieren die Menschenrechte die Menschenwürde, die als ihr höchster Gipfel nicht mehr ihr tragendes Fundament bildet; anders ausgedrückt: Weit davon entfernt, bloß der Sicherung menschlicher Würde zu dienen, sind die Menschenrechte der Stoff, aus dem die Würde entsteht, ja besteht.“ (209).

Gelegentlich ist mir eine Erzählung begegnet, die schon Herodot kannte, und wonach auch im Mittelalter wenigstens einmal ergebnislos versucht worden sei, die vermutete Ursprache zu finden. Man hätte demnach ein Kind aufgezogen, aber vermieden, es je in irgendeiner der bestehenden Sprachen anzusprehen. Dieses Kind sei am Ende dieses Experimentes diesem „Bericht“ zufolge gestorben. Die Historizität ist verständlicherweise mehr als fraglich. Unabhängig davon handelt es sich jedenfalls um eine eindrucksvolle Schilderung der menschlichen Überzeugung, daß niemand als einsames Ich existieren kann. Jeder braucht lebensnotwendig andere Menschen, nicht nur um seine physischen Bedürfnisse befriedigen zu können. Er braucht ebenso auch deren Anrede. Mir scheint es verwegen, diese anthropologische Tatsache, „Person ist ohne den interpersonalen Bezug unmöglich“, die oben schon näher bedacht worden ist, beim Versuch, Menschenwürde zu verstehen, völlig beiseite zu lassen. Denn Menschenwürde nur unter dem Gesichtspunkt wünschenswerter Konsequenzen ernstzunehmen, reicht nicht.

Wer eine offene Frage neutral beantworten will, muß sich vor dem Kurzschluß hüten, eine der vorliegenden Deutungen von vornherein als unbrauchbar auszuschließen. Es handelt sich um ein häufig auftretendes Schauspiel. Das illustriert am besten die Ökonomie. Die Meinung, die ganze Welt richte sich ausschließlich nach Profitinteressen, diese einseitige und hochideologische Interpretation der eisernen Gesetze des Kapitalismus, wird ständig als ausgesprochen unideologisch gepriesen, weil man das Ergebnis als Ausdruck schierer Rationalität verkaufen will.

Kurz gesagt bedeutet das für unsere Frage: Das Prinzip, humane und rechtsstaaatliche Maximen könnten sich nicht auf eine gegebene Würde des Menschen berufen sondern seien lediglich ein Bündel rechtlicher Ansprüche, die ihrerseits diese Würde erst zustande bringen, kann kaum beanspruchen, weltanschaulich neutral zu sein. Die konstitutive Korrespondenz von Ich und Du und umgekehrt, in der u.a. die Würde des Menschen zu Tage tritt, ergibt sich aus handfesten Erkenntnissen. Mit dem Schlagwort weltanschaulich neutral sein zu müssen, darf diese Erfahrung nicht unterdrückt werden.

Der Schlußbericht der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin. Zur Menschenwürde aus ethischer und rechtlicher Sicht des Deutschen Bundestages (2002) kommt ebenfalls zu einem anderen Ergebnis. Dort heißt es: „Die ethische Bedeutung des Menschenwürdegedankens liegt vor allem und insbesondere darin, dass die Menschenwürde als das Fundament der Menschenrechte herausgestellt wird. Die Menschenwürde führt zur Formulierung der Menschenrechte hin, bedarf aber umgekehrt auch der politisch-rechtlichen Absicherung durch eben diese Rechte; sie begründet die Schutz- und Freiheitsrechte des Menschen und schärft diese ein.“ Daß damit zugleich der „letzte Grund“ von Menschenwürde „weltanschauungsneutral“ (so Wetz) gegeben sei, davon ist nicht die Rede. Die Redeweise vom „letzten Grund“ stellt einen kategorischen, fast metaphysischen Anspruch dar, der nicht mit jeder herrschenden Weltanschauung vereinbar sein dürfte.

In dieser Verlegenheit empfiehlt Wetz von seinen Voraussetzungen her einen Ausweg, wenn er betont: „Man sollte die Menschenwürde gerade dann achten, wenn es sie nicht gibt, damit es sie gibt, weil sie vielleicht das einzige ist, was uns in einer entzauberten Welt noch Wert verleiht. So gesehen besteht die Würde des Menschen aus nichts anderem als aus der Achtung davor. Erst die Würde zu respektieren heißt, sie zu konstituieren.“ (F.J. Wetz, 2005, S. 243) Der Autor rät also, die Menschenwürde zu simulieren, um der entzauberten Welt gewachsen zu sein. Ob das gelingt? Münchhausen soll dabei gescheitert sein, sich am eigenen Schopf emporzuziehen.

Angesichts des neuen Grundgesetzkommentars diagnostizierte 2003 Ernst-Wolfgang Böckenförde : „Die Würde des Menschen war unantastbar.“ (FAZ 3.9.03) „Diese Neukommentierung markiert einen Epochenwechsel.“ Weiter heißt es: „Dürigs Kommentierung von 1958 war aus der Gründungssituation der Bundesrepublik erwachsen. Sie war getragen vom Elan und von der Emphase der Generation, die aus dem Krieg kam, die das NS-Regime, den Krieg und die Kriegsfolgen unmittelbar erlebt hatte. Auf den Trümmern des Jahres 1945 wollte diese Generation, wie das Grundgesetz auch, eine neue und bessere Ordnung bauen, einen Damm gegen jede offene oder verdeckte Wiederkehr dessen errichten, was man selbst erfahren und erlitten hatte.“ Böckenförde stellt die Berechtigung der neuen Kommentierung nicht in Frage. Jedoch zitiert er z.B. hinsichtlich des Schutzes früher und frühester Formen menschlichen Lebens „geht es [in der Neufassung] um eine Dimension des Würdeschutzes, zu welcher der Diskurs über Gottebenbildlichkeit, den Beginn der Beseeltheit menschlichen Lebens, sittliche Autonomie und Selbstzweckhaftigkeit der individuellen Existenz in der Geistesgeschichte der letzten zweieinhalb Jahrtausende ebensowenig einen verläßlichen Zugang bietet wie das schwach konturierte Menschenbild des Grundgesetzes“. Böckenfördes Bilanz: „Deutlicher kann das Programm, die nähere Bestimmung der Menschenwürde von ihrer meta-positiven Verankerung abzulösen und ganz auf sich zu stellen, nicht vollzogen werden.“ Das heißt: Alles ist nicht jederzeit möglich mit der Folge, daß sich in der Geschichte nicht jederzeit ein KAIROS bietet, wenn er benötigt und herbeigewünscht wird. Unsere Politiker sprechen ähnlich gern, etwa wenn es um den Frieden geht, von einem befristeten „Zeitfenster“.

Meine Folgerung: Wenn die ursprünglich meta-positive Basis des Grundgesetzes in Frage gestellt wird, hat das vermutlich Konsequenzen für die Rechtssprechung. Daraus ergibt sich jedoch keine Annullierung des Prinzips Menschenwürde. Ich sehe durch die Änderung der juridischen Bewertung meine eigene oben vertretene These vom Wunder eines je neuen menschlichen Lebens deshalb nicht desavouiert, vielmehr bestätigt. Vielleicht müssen wir uns  inzwischen damit abfinden, daß das Konzept „Menschenwürde“, nicht mehr nahtlos in die realexistierende Welt paßt.