Wenn man den Statistiken glauben darf, gehören ca. 80 % der Weltbevölkerung einer Religion an. Allein der Begriff „Religion“ ist schon eine Verlegenheitslösung. Denn bis heute kann niemand eine eindeutige Antwort geben, was denn unter diesem Begriff zu verstehen sei. Die christliche Theologie ist zwar nicht müßig geblieben und hat ihrerseits die Frage, was eigentlich eine Religion ist, aus ihrer Sicht häufig zu beantworten versucht. Das Pech ist aber, die Anhänger anderer Religionen können mit einer solchen, d.h. mit unserer Antwort nichts anfangen.
Wenn die Theologie nicht weiter weiß, ist vielleicht die Philosophie oder notfalls die Soziologie klüger? „Notfalls“ die Soziologie. Diese Formulierung bedeutet keine Geringschätzung, wie es im Mittelalter vielleicht gemeint gewesen wäre, als die Theologie sich als die Königin der Wissenschaften verstand. Sogar die Philosophie galt damals nur als halbe Portion, als ancilla, Magd der Theologie. Die Soziologie, die wir heute jedoch als höchst bedeutsame und natürlich selbständige Wissenschaft betrachten, gab es damals noch nicht einmal. Was ist also zu tun?
In der Philosophie gibt es Versuche, aus der Fülle der verschiedensten Religionen das Gemeinsame herauszufiltern. Ein gutes Beispiel liefert das hoch angesehene umfangreiche „Historische Wörterbuch der Philosophie“. Zum Stichwort „Religion“ stellt der Verfasser Ulrich Dierse zu Beginn fest: „Obwohl es seit langem üblich ist, Religion als Sammelbegriff für jede Verehrung transzendenter Mächte, jede Lehre vom Göttlichen und alle Glaubensbekenntnisse der Menschen zu verwenden, ist es fast unmöglich, genaue Äquivalenzbegriffe für Religion in jenen Sprachen zu finden, die nicht das lat. religio aufgenommen haben, nicht zuletzt wegen des Bedeutungswandels von religio selbst.“
Einen Oberbegriff, unter dem die verschiedensten Religionen zusammenzufassen wären, finden die Philosophen demnach nicht. Gelegentlich wird mancherorts sogar nur der in der eigenen Religion verehrten Gottheit die Göttlichkeit zugebilligt. Ähnlich fällt es uns Christen schwer, andere Religionen als Religionen ernst zu nehmen, gar sie als ebenbürtig zu betrachten. Nehmen wir an, auf einem anderen Stern gäbe es Schafe aber sonst keine anderen Säugetiere. Wie kann man den Bewohnern dort erklären, dass es auf der Erde auch noch andere Tiere mit vier Beinen gibt? So fällt es etwa manchem Moslem schwer hinzunehmen, dass Fremde ihren Gott ebenfalls Allah nennen, obwohl nur der von ihnen verehrte Allah diesen Namen verdient, und der ist der einzige: „Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt.“.
Bescheidener geht heute die Soziologie vor. Sie versucht erst gar nicht zu definieren, was eigentlich „die“ Religion ist. Sie beschränkt sich darauf zu untersuchen, welche Rolle die Religion in der jeweiligen Gesellschaft spielt. Etwa: Fordert sie ihre Anhänger auf, friedlich mit Fremden und „Andersgläubigen“ zusammenzuleben? Oder stachelt sie vielmehr ihre Anhänger auf, Fremde wegen ihres angeblichen Unglaubens oder gar Irrglaubens zu bekämpfen?
Wie jeder weiß, leben wir heute Tür an Tür etwa mit Muslimen oder (noch schlimmer?) mit Atheisten, die womöglich unser Christentum überhaupt nicht schätzen. Erst recht bieten die Verhältnisse in der weiten Welt ein völliges Durcheinander. Um sich selbst in dieser großen und in unserer kleinen Welt zurechtzufinden und dieser Situation gerecht zu werden, muss geklärt werden, was überhaupt Religion sei. Dieser Versuch kann nicht nebenbei durch bloß gut gemeinte theologische Theorien oder Praktiken ersetzt werden.
Das ist aber nicht alles. Außerdem gibt es für uns einen Maßstab, wie wir uns gegenüber Andersgläubigen oder Nichtglaubenden verhalten sollen. Ich finde die Sache beim Apostel Paulus (wie man heute zu sagen pflegt) auf den Punkt gebracht. Er versichert 1 Kor 9,19-23: „Ich habe mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen. Den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser – nicht als ein Gesetzloser vor Gott, sondern gebunden an das Gesetz Christi -, um die Gesetzlosen zu gewinnen. Den Schwachen wurde ich ein Schwacher, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten.“
Vermutlich müsste man heute konsequenterweise fortfahren: „Den Ungläubigen wurde ich ein Ungläubiger.“ Das heißt, wir müssten die Welt auch einmal betrachten, ohne die Brille als Christen auf der Nase. Wenigstens müssten wir versuchen, uns zu fragen, was es für uns als Menschen überhaupt bedeutet, (gegebenenfalls) eine Religion zu haben. Damit wären wir bei dem Thema, das wir demnächst gemeinsam diskutieren wollen.
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